Veränderung und Stillstand Zur Ambivalenz der 1990er Jahre
Hype der Medien
Gleichviel, ob die Menschen in der Tristesse eines so wahrgenommenen Stillstandes litten oder sich mit den ersten Burnouts infolge eines permanenten Veränderungsdrucks plagten, es gab die Kompensation der Unterhaltung. Die unterhaltenden Massen- und Medienkulturen hatten nicht mit den 1990er Jahren begonnen, aber doch einen weiteren qualitativen Sprung gemacht. 1992 erfreute sich mit RTL erstmals ein Privatsender der Marktführerschaft bei der »werberelevanten Zielgruppe« der 14- bis 49-Jährigen,[21] da ihn die Einschaltquoten vor ARD und ZDF katapultiert hatten. Ende des Jahrzehnts konnte man sich in einem deutschen Durchschnittshaushalt in 36 Programme einschalten.[22] Das hatte nicht nur Auswirkungen auf das Alltagsverhalten. Auch das Verständnis von Kultur, schließlich gar der Politik formte sich um. Die klassische bürgerliche Hochkultur verlor zwar nicht ihre überlieferten und vom Staat großzügig subventionierten Orte, aber ihre Vorbildstellung, ihr nach unten sickernder Prägestoff ging doch unübersehbar verloren. Die neuen Massenkulturen wurden noch ein Stück unelitärer, plebejischer, ja proletaroider. Das Privatfernsehen verschaffte sich überwiegend Aufmerksamkeit durch immer neu ausgetüftelte, artifizielle Events, operierte mit Schock- und Ekelelementen, Regelverstößen und der fortwährenden Befriedigung verbreiteter Voyeurismusbedürfnisse.[23]
Das alles fand in diesem Jahrzehnt Eingang in Politik und Parteien. Besonders die frühere eher maßvoll auftretende Honoratiorenpartei FDP mutierte zum Ende des Jahrzehnts unter dem Generalsekretär Guido Westerwelle zu einer schrillen, grellen, sich lustvoll als Tabubrecher in Szene setzenden Spaß- und Protestpartei. Doch auch Sozialdemokraten und Grüne hatten zuvor bereits den Reiz und die schnelle Durchschlagskraft, in Bezug auf mediale Beachtung, das Mittel der Provokation entdeckt. Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Joschka Fischer auch Jürgen Trittin hatten sich mit dieser Methode rasch bekannt gemacht und an die Spitze ihrer Partei gebracht. Doch erst im Jahrzehnt darauf gerieten die Tücken und Menetekel einer Politik gezielter Provokation – die notwendigerweise zu immer weiteren Zuspitzungen und Eskalationen drängen muss – in den Blick. In den 1990er Jahren trug sie zunächst allein zu einer Abkehr vom klassischen Parteientypus bei. Mitgliederorganisationen, Funktionäre, Programmelaborate büßten ihr Gewicht in der politischen Willensbildung und für die Rekrutierung der politischen Eliten ein. Denn als weit wichtiger erachtete man nun Medienkompetenz, besser noch: prononciertes Mediencharisma. Und statt auf prinzipientreue Aktivisten oder Theoretiker aus dem eigenen Parteienkosmos hörten die Spitzenwahlkämpfer jetzt verstärkt auf Meinungsforscher, Marketingexperten, SpinDoktoren, professionelle Berater in Think Tanks.
So hatten sich die Sozialdemokraten, als sie nach 1998 in der Bundesregierung standen, von zentralen früheren politischen Positionen gelöst. Das wurde anfangs von den Medien als außerordentlich modern, unideologisch und pragmatisch gerühmt. Denn das Alte galt als Ballast, als überständiger Traditionsmüll. Doch hatten die rot-grünen Modernisierer, mit Ausnahme der ökologischen Steuerreform, nur wenig genuine Ideen, ein originäres Konzept. Die Generation Schröder kam an die Macht, ohne eine eigene wirtschaftspolitische, außenpolitische, sozialpolitische Philosophie. Alles wurde 1999 schon geborgt, sei es von den Briten, sei es von Skandinaviern, rasch wieder ausgewechselt, durch neue Anleihen ersetzt. Und so wirkten die Sozialdemokraten bald, als wüssten sie nicht mehr, welche Gesellschaft sie eigentlich anstrebten. Sie schienen sich nicht sicher zu sein, ob der Sozialstaat nun ein gelungenes Sozialmodell war oder doch eher ein bürokratisches Hemmnis gegenüber eigenverantwortlicher Initiativen. Sie schwankten darin, ob hohe Steuern Teufelswerk wären oder ein Segen für das Volk. Sie waren unentschieden darin, ob effektive Bürokratien wichtig für die gesellschaftliche Kohäsion waren oder eine Blockade für flotte privatwirtschaftliche Dynamik darstellten.
Der Vertrauensschwund, den die Sozialdemokraten bei etlichen früheren Anhängern erlebten und bis heute nicht rückgängig machen konnten, hat hier, schon in den 1990er Jahren, in der Zeit ihres größten Triumphes bei den Bundestagswahlen 1998, seinen Anfang genommen. Die Sozialdemokraten haben in diesen Jahren des sogenannten »Dritten Weges« eine große historische Chance vertan, keineswegs nur in Deutschland. Denn sie verfügten zu jener Zeit in Europa weitflächig über die Regierungsmacht. Sie hätten die Finanzpolitik konzertieren, hätten harte Regeln für die Kapitalmärkte aufstellen können. Eben das forderten schon 1999 einige prominente frühere Herolde des Neoliberalismus wie Paul Krugman, Jeffrey Sachs, George Soros.[24] Sie wussten, wovon sie redeten, erkannten klar, dass das unkontrollierte globale Finanzsystem einer Katastrophe entgegensteuerte. Die Sozialdemokraten ignorierten all diese Warnungen; sie skandierten launig die neuliberalen Trinksprüche noch zu einem Zeitpunkt, als die Party längst ihren Höhepunkt überschritten hatte und der Katzenjammer sich schon andeutete. Hinzu kam, was der kundige journalistische Beobachter Werner A. Perger über die Führungspersonen der neuen Sozialdemokratien schrieb: »Sie hatten offenkundig keine Ahnung von den Alltagssorgen der Bürger, den Veränderungen am Arbeitsplatz, den Folgen des wachsenden Leistungsdrucks auf Familien.«[25] Auch Ralf Dahrendorf urteilte, der Auftritt der europäischen Sozialdemokratien des »Dritten Weges« sei allein »für diejenigen attraktiv« gewesen, die sich nicht bedroht gefühlt hätten.[26] Der Graswurzelverlust der Sozialdemokraten wurde sodann zur großen Chance des Rechtspopulismus in Europa. Die populistische Rechte wuchs und gedieh mit der bei ihr nun üblichen Sozialrhetorik trefflich an den Rainen des so genannten Dritten Weges.
Der Dezisionismus der Tat und der Segen der Tatenlosigkeit
Das hatte ebenfalls seinen konstituierenden Ausgang in den 1990er Jahren. Was blieb, war der Dezisionismus der politischen Tat und der apodiktische Verweis auf deren unzweifelhafte »Alternativlosigkeit«. In den 1990er Jahren hatte die Politik die Vorzüge dieser Vokabel als Immunisierung eigener politischer Entscheidungen gegenüber jedweder Kritik entdeckt. Die Wiedervereinigung war demzufolge auch in ihrer Geschwindigkeit und Ausgestaltung »alternativlos«. Die Modellierung der Europäischen Union hatte sowieso den Gütestempel der »Alternativlosigkeit« erhalten. Später stand die »Alternativlosigkeit« verlässlich in der Überschrift, um Steuern zu senken, militärische Interventionen und Sozialeingriffe zu legitimieren. Um Politik in hochkomplexen Gesellschaften mit etlichen Vetomächten Handlungsmöglichkeiten zu verschaffen, entfernten die Regenten den strittigen Diskurs aus diesem selbst geschaffenen und unmittelbar abgesperrten Raum.
Doch gilt Gerhard Schröder, der Schulmeister der »Alternativlosigkeit«, weithin als der energische Mann, der Deutschland vom Mehltau der unreformistischen Kohl-Jahre befreit hat. Mit seiner Sozialreform, in der Bundestagsrede als Agenda 2010 am 14. März 2003 angekündigt und in die HartzGesetzgebung gegossen, habe der Aufstieg aus dem tiefen Tal der Erstarrung und dem Strukturkonservatismus in den 1990er Jahren begonnen. Dabei war das Land schon vor der Agenda längst in diese Richtung in Bewegung geraten.[27] Die Lohnkosten in Deutschland waren im EU-Vergleich schon seit den 1990er Jahren außerordentlich langsam gestiegen, genauer: um weniger als die Hälfte des OECD-Durchschnitts. Die Gewerkschaften hatten in Tarifauseinandersetzungen große Zurückhaltung gezeigt. Verlorene Arbeitstage durch Streiks gab es kaum, erheblich weniger jedenfalls als in den USA oder in Großbritannien. Die Arbeitskosten waren dadurch in den letzten Jahren drastisch gesunken, auch hier: stärker als in den angelsächsischen Ländern. Die Großunternehmen fanden in der deutschen Sozialordnung flexible Voraussetzungen vor. Der Flächenvertrag hatte in weiten Bereichen seine Verbindlichkeit eingebüßt. Vor hohen Steuern mussten sich große Unternehmen in Deutschland ebenfalls nicht fürchten. Überhaupt war der deutsche Sozialstaat seit den 1970er Jahren keineswegs expansiv in die Breite gegangen. In der sozialen Sicherung war der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat gemessen an anderen Ländern der Europäischen Union gar zuletzt in das untere Mittelfeld abgerutscht; die Kosten, die in Deutschland kollektiv für Rente und Gesundheit aufgebracht wurden, lagen innerhalb des EU-Mittels. Zuletzt war auch in den Bereichen der Alters- und Krankenversicherung einiges reformiert und privatisiert worden. Grundlegend dereguliert worden war in den 1990er Jahren der Telekommunikations- und Energiemarkt. Privatisierungen waren damit einhergegangen, während zugleich der Anteil der staatlich Bediensteten Jahr für Jahr um etwa ein Prozent schrumpfte. Von einer massiven Bürokratisierung der Republik konnte also ernsthaft längst nicht mehr die Rede sein. Etliche Steuerreformen seit den 1980er Jahren hatten das unternehmerische Kapital von der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben gar weitgehend dispensiert. Lange fort währten allerdings die Probleme aus dem Management der deutschen Vereinigung.[28] In deren Folge tätigte der Westen Deutschlands vor allem über die Sozialkassen jährliche Transfers in der Größe des Brutto-Inland-Produkts von Tschechien und Ungarn. Und diese Transfers, die im Wesentlichen in die Konsumtion flossen, rissen Jahr für Jahr Lücken und Löcher in die eigentlich fälligen Infrastruktur-, Bildungs- und Integrationsinvestitionen. Dennoch lag der Westen nach wie vor ökonomisch im höheren Mittelfeld der modernen Volkswirtschaften, als es mit Hartz IV richtig losging.
Mehr noch: In der großen internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise stand Deutschland allein deshalb so gut da, so zumindest der Befund von Guillaume Duval, weil es Schröder gerade nicht gelungen war, die überlieferten Strukturen des alten westdeutschen Modells komplett zu beseitigen.[29] Dazu zählt Duval den Föderalismus, die im Vergleich zu anderen europäischen Ländern nach wie vor vergleichsweise starken Verbände, nicht zuletzt die industrielle Mitbestimmung, das System institutionalisierter Kooperation, also all das, was in den Walpurgisnächten der neoliberalen Hexentänze verbrannt werden sollte, was in den 1990er Jahren des Stillstands gegen die (unfreiwillige) Allianz von Kohl und Lafontaine allerdings nicht umfassend funktionierte. Es kann schon sein, dass die gewaltigen Transformationsaufgaben und die Prägekraft institutioneller Traditionen in mehreren Bereichen der deutschen Gesellschaft während der 1990er Jahre für eine Art Teil-Stau gesorgt haben, der verhinderte, dass zerschlagen wurde, was Deutschland später in der ökonomischen Krise seit 2008 stützen sollte.
Anmerkungen:
[1] Patrik Schwarz, Stolz und Vorurteil, in: Die Zeit, 11.12.2014.
[3] Vgl. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte der neunziger Jahre, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg.40 (1993) H.12, S. 1125–1129, hier S. 1127.
[4] Vgl. Stefan Hradil, Vom Wandel des Wertewandels. Die Individualisierung und einer ihrer Gegenbewegungen, in: Wolfgang Glatzer u. a. (Hg.), Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung, Opladen 2002, S. 31 ff.
[5] Stefan Hradil, Zur Sozialstrukturentwicklung in den neunziger Jahren, in: Werner Süß, Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 227–250, hier S. 249.
[6] Vgl. hierzu Detlef Gau, Das Bildungssystem in den 1990er Jahren. Am Beginn einer Zeitenwende, in: Werner Faulstich (Hg.), Die Kultur der 90er Jahre, München 2010, S. 149–162.
[7] Vgl. Lu Seegers, ManagerBilder. Leitvorstellungen und Wirtschaftshandeln in der Bundesrepublik Deutschland (1970– 2000), in: Miriam Gebhardt u. a. (Hg.), Das integrative Potential von Elitenkulturen, Stuttgart 2013, S. 177–189, hier S. 187 f.
[8] Vgl. Saskia Freye, Führungswechsel. Die Wirtschaftselite und das Ende der Deutschland AG, Frankfurt a.M. 2009, S. 115 ff.
[9] Beispielhaft Hans Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?, Berlin 2004.
[10] Rede nachzulesen unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1997/04/19970426_Rede.html [eingesehen am 30.01.2015].
[11] Jan Ross, Die verlorene Zeit. Ein kurzer Rückblick auf die langen neunziger Jahre, in: Merkur, Jg.56 (2002) H.7, S. 555–565.
[12] Vgl. Roland Czada, Zwischen Stagnation und Umbruch, Die politisch-ökonomische Entwicklung nach 1989, in: Werner Süß, Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung, Opladen 2002, S. 203–225, hier S. 223.
[13] Vgl. Hans-Peter Schwarz, Reformimpulse in den neunziger Jahren. Der Reformer Helmut Kohl, in: Güter Buchstab u. a. (Hg.), Die Ära Kohl im Gespräch, Berlin 2010, S. 557–578.
[14] Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 1147–1153.
[15] Auch Wolfram Weimer, Wer zu hoch fliegt, dem droht das Abseits, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.04.1992.
[16] Siehe hierzu u. a. Martin Kronauer, Exklusion: die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2002.
[17] Vgl. Werner Faulstich, Einleitung – zu den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konturen, in: Ders. (Hg.), Die Kultur der 90er Jahre, S. 7–20, hier S. 11.
[18] Siehe Franz Walter, vom Milieu zum Parteienstaat. Lebenswelten, Leitfiguren und Politik im historischen Wandel, Wiesbaden 2010, S. 203 ff.
[19] Auch Heinz Bude, Schicksal, in: Ders. (Hg.), Deutschland spricht. Schicksale der Neunziger, Berlin 1995, S. 7–12.
[20] Vgl. Herbert, S. 1158 f.
[21] Vgl. Rüdiger Heimlich, Der Wurm ist in der Mitte angekommen, in: Frankfurter Rundschau, 09.01.2009.
[22] Vgl. Karin Knop, Zwischen Schock- und Onlinewerbung – Die Werbelandschaft in den 1990er Jahren, in: Faulstich, S. 215–234, hier S. 228.
[23] Siehe dazu z.B. URL: http://kurier.at/kultur/medien/erinnern-sie-sich-an-die-spielshows-der-90er/15.060.348/slideshow#15060348,14972718 [eingesehen am 31.01.2015].
[24] Vgl. hierzu Eric Hobsbawm, Der Tod des Neoliberalismus, in: Stuart Hall, Bewegung ohne Ziel, in: Ders. u. a., Tod des Neoliberalismus – es lebe die Sozialdemokratie?, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, H.1/1999, Hamburg 1999, S. 8ff.; Paul Krugman, Die Große Rezession. Was zu tun ist, damit die Weltwirtschaft nicht kippt, Frankfurt a.M. 2001; Georg Soros, Die offene Gesellschaft. Für eine Reform des globalen Kapitalismus, Berlin 2001.
[25] Werner A. Perger, Besserwisser habens schwer, in: Die Zeit, 14.10.2004.
[26] Ralf Dahrendorf, New Labour und Old Liberty – Kommentare zum Dritten Weg, in: Neue Zürcher Zeitung, 14.07.1999.
[27] Vgl. o.V., Germany’s economy – ready to motor?, in: The Economist, 20.08.2005, S. 54–56.
[28] Vgl. Heiner Gassmann, 30 Jahre Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik – ein deutscher Sonderweg, in: Leviathan Jg.32 (2004) H.2, S. 164 ff.
[29] Guillaume Duval, Made in Germany: Le modèle allemand au-delà des mythes, Paris 2013.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015