„Durchbruch der Globalisierung“ Über die 1980er Jahre als Jahrzehnt der Transformation

Ein Gespräch mit Andreas Rödder

Kann man hier also schon den Beginn eines ökonomischen Wettstreits mit anderen Ländern erkennen, der bald die Diskussion über Wettbewerbsfähigkeit und Standortbedingungen befeuern sollte?

Diese Sichtweise setzte sich in Deutschland erst in den 1990ern durch. Die deutsche Perspektive in den 1980ern war eine andere: die Vorstellung, dass man mit einer Politik der Haushaltskonsolidierung und der Währungsstabilität die Dinge aus eigener Kraft wieder flott machen könnte. Und dies gelang in der Bundesrepublik in den 1980ern ja auch. Bald nach dem Regierungswechsel von 1982 setzte eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung ein, die zunächst eher moderat verlief und in den späten 1980ern in einen veritablen Boom überging. Ende der 1980er Jahre erlebte die Bundesrepublik eine solche Wachstumsphase, dass das Land vor Kraft kaum laufen konnte. Schauen Sie einmal auf die Feiern anlässlich des 40-jährigen Bestehens im Frühjahr 1989: Die Bundesrepublik war noch nie so sehr bei sich gewesen, und allerorten war glücklich und zufrieden die Rede vom „Modell Deutschland“. Eine historische Erfahrung am Rande: Wenn bislang in Deutschland vom „Modell Deutschland“ die Rede war, befand sich das Land gerade auf dem Weg in Strukturprobleme. Und als der „Abstieg eines Superstars“ ausgerufen wurde, war das Land schon wieder auf dem Weg nach oben. Insofern ist immer Vorsicht geboten, wenn das „Modell Deutschland“ allzu positiv kommuniziert wird. In den 1980ern war zwar zuweilen von einem „Reformstau“ die Rede, aber in den späten 1980er Jahren waren die ökonomischen und sozialen Daten so positiv, dass die Debatte in Deutschland nur sehr verhalten einsetzte. Hinzu kommt, dass gerade unter dem Eindruck der sozialen Härten der Thatcher- Regierung, gerade aus dem anglo-amerikanischen Ausland, die Bundesrepublik in den 1980er Jahren als das „Modell Deutschland“ wahrgenommen wurde, als Musterfall einer prosperierenden und sozial stabilen Wirtschaft und Gesellschaft.

Inwieweit ist denn die geistig-moralische Wende Kohls eigentlich Teil dieser Transformation?

Wenig. Die „geistig-moralische Wende“ ist ein Slogan Kohls gewesen, der die meisten von denen, die darauf gehofft hatten, völlig unbefriedigt gelassen hat. Was die Regierung Kohl verändert hat, war erstens, eine Politik der Haushaltskonsolidierung einzuleiten, und zweitens, eine Außen- und Sicherheitspolitik der dezidierten Westbindung und loyalen Bündnispolitik zu betreiben. Das ist aber beides nicht das, was im Zentrum der sogenannten „geistig-moralischen Wende“ stand. Wenn es diese in einem Bereich gab, dann in der Familienpolitik, vor allen Dingen mit der Anrechnung von Erziehungszeiten auf die Rentenanwartschaft, weil ebendies letztendlich eine Strukturveränderung zugunsten der Kindererziehung in den deutschen so-zialen Sicherungssystemen darstellte.

Mit der Besserstellung der Frau…

Schlicht und ergreifend mit der Anerkennung von Familienarbeit in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht. Das blieb natürlich weit hinter dem zurück, was viele Familienpolitiker immer im Hinblick darauf gefordert haben, Familienarbeit anzuerkennen und gleichzustellen. Aber hier war sozusagen der sozialrechtliche Durchbruch erzielt, dies zumindest im Prinzip anzuerkennen.

Für Sie als Historiker sind die 1980er nicht nur wissenschaftliches Anschauungsgebiet, sondern im Prinzip tragen Sie das immerwährende Ringen zwischen dem Wissenschaftler und dem Zeitzeugen in sich. Wie charakterisieren Sie persönlich für sich die 1980er Jahre?

Die 1980er Jahre sind mein Jahrzehnt! Meine politische Sozialisation ist untrennbar verbunden mit den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung der Mittelstreckenraketen in den frühen 1980er Jahren. Vor einiger Zeit sah ich eine ganzseitige Zeitungsseite mit einer großen Zahl von Porträtfotos der Beteiligten dieser Kontroverse, sowohl auf Seiten der Friedensbewegung als auch auf der Seite ihrer Gegner - und ich kannte alle sofort beim Namen und hatte eine präsente Erinnerung daran. Insofern: ja, hier liegt eine Spannung vor, die eigene Erinnerung und die wissenschaftliche Erkenntnis miteinander zu verbinden. Dabei erschließe ich mir über die wissenschaftliche Erkenntnis immer wieder völlig neue und mir ganz unbekannte Welten meiner eigenen Vergangenheit und der Zeit, in der ich gelebt habe.

Inwiefern?

Die historische Betrachtung als Zeitzeuge ist gefährlich und chancenreich zugleich. Natürlich ist die Brille der eigenen persönlichen Erinnerung eine Gefahr, Dinge in einer ganz bestimmten Perspektive zu sehen - angefangen von geglaubten Gewissheiten im Kleinen bis hin zu grundsätzlichen Einschätzungen, die man weitertransportiert. Diese Gefahr gilt im Grundsatz für alle Geschichtsschreibung: Ein Katholik schaut anders auf die Reformation als ein Protestant und ein Mann anders auf die Hexenverbrennung als eine Frau. Aber es gilt natürlich in Hinblick auf die Zeitgeschichte sehr, sehr zugespitzt. Auf der anderen Seite macht die Nähe zum Gegenstand einen besonderen intellektuellen Reiz aus, sie ist eine Herausforderung an die Erkenntnisfähigkeit von Historikern und den Anspruch des Bemühens um Vorurteilslosigkeit, um mit vermeintlichen Gewissheiten wissenschaftlich umzugehen und bislang Geglaubtes durch neu Erkanntes zu ersetzen.

Was macht für Sie die Faszination dieser Jahre aus als jemand, der in der Zeit aufgewachsen ist?

Die Faszination - und das macht die Zeit seit den 1980ern der Zeit vor 1914 ähnlich - liegt in den Vorgängen der Pluralisierung und der Beschleunigung: von Computern über moderne Kommunikationsmittel, Möglichkeiten der Mobilität und des Reisens bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Pluralisierungsprozessen. „Radikale Pluralität“ hat Wolfgang Welsch dies genannt, wobei die historische Empirie zeigt, dass die gesamtgesellschaftlich verbreiteten Lebensformen sich sehr viel langsamer gewandelt haben als der intellektuelle Anspruch auf den Höhen der philosophischen oder intellektuellen Debatten der Postmoderne. Diese neue Pluralität war zugleich mit großen Unsicherheiten verbunden: Niemand weiß, wohin das Ganze eigentlich geht. Und genau das erleben wir ja auch im Moment - ein Beispiel: Mit einem Federstrich in der FAS widerruft Sascha Lobo sein Credo vom Internet als dem Medium einer neuen Demokratie. Je selbstgewisser die Propheten, desto weniger sollte man ihnen glauben. Es hilft nichts: Wir müssen Unsicherheit aushalten, auch die Unsicherheit, wo sich eine zunehmend beschleunigte Entwicklung eigentlich hinbewegt. Das macht die Zeit seit den 1980ern der vor 1914 so ähnlich - und die gegenwärtige Wiederentdeckung der Geschichte vor 1914 eröffnet zugleich neue Perspektiven für die historische Einordnung und das Verständnis der Gegenwart.

Kann man denn identifizieren, dies als letzte Frage, welche neuen grundlegenden Tendenzen sich seit den 1980er Jahren herausgebildet haben?

Genau diese Frage versuche ich in meinem neuen Buch zu beantworten, das den vielleicht etwas vermessenen Arbeitstitel „Geschichte der Gegenwart“ trägt und das zentrale Entwicklungen und Probleme der Gegenwart in ihrer historischen Entstehung und in ihren internationalen Bezügen erklären will. Anfang nächsten Jahres möchte ich damit fertig sein, und nun bitte ich Sie um Nachsicht, dass ich nicht schon heute alles verraten möchte.

Das Interview führte Felix Butzlaff.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014