Verstand und Gefühl Arabischer Frühling, Occupy und S21

Von Elke Endert

»Zärtlichkeit der Massen« – so titelte die Frankfurter Rundschau im Februar 2011 ein Interview mit Navid Kermani[1] anlässlich der Demonstrationen in Kairo. Inwieweit der Titel in Kenntnis des politsoziologischen Begriffs der »Masse« gewählt wurde, ist nicht bekannt, aber es könnte sich in dieser Überschrift ein geschickt versteckter kontradiktorischer Leseanreiz verber­gen, denn in den Massetheorien des vergangenen Jahrhunderts waren die Massen alles andere als zärtlich. Le Bon und Freud beschrieben die Masse als unzivilisiert, triebhaft und irrational, in der Masse verliere der Einzelne die Fähigkeit zu denken, ohne jegliche Art der Affektkontrolle handele er völlig enthemmt und rücksichtslos. In Verbindung mit dem Menschenbild der Aufklärung entwickelte sich mit der Massenpsychologie ein festgefügtes Gegensatzpaar: hier das rational denkende, nach Autonomie und Kritik­fähigkeit strebende Individuum, dort die irrational handelnde Masse, die sich von bloßen Launen verführen lässt. Diese Gleichsetzung der Masse mit Unvernunft und Gefühl hatte einen eindeutig abwertenden Charakter, sie diskreditierte politische Massenbewegungen als »Pöbel« oder »Mob«, der ohne jeden Verstand rebelliere. Von dieser negativen Konnotation hat sich der Begriff der Masse bis heute nicht erholt.[2]

Damals wie heute stehen Gefühle als Handlungsmotivation nicht hoch im Kurs. Am Beispiel politischer Großereignisse lässt sich dies gut an der Empörung über das von den Medien geprägte Schlagwort der »Wutbürger« ablesen: »Der gemeine Wutbürger ging 2010 in Stuttgart und anderswo auf die Straße, um zu demonstrieren. Er selbst empfindet es jedoch als diffamie­rend, wenn man ihn als Wutbürger bezeichnet: Der Begriff impliziert, dass die Triebfeder seines Handelns nichts als Wut sei. Das wertet sein Engagement ab. Schließlich handelt er wohlüberlegt, wenn er für seine Recht einsteht – nicht aus blinder Wut heraus.«[3] Diese altbekannte Gegenüberstellung »nichts als Gefühle« auf der einen Seite, wohlüberlegte, sachliche Motive auf der anderen, steht sinnbildlich für den weitverbreiteten Irrtum, dass es sich bei Gefühl und Verstand um zwei unvereinbare Dinge handele. Dabei gehören beide untrenn­bar zusammen: Gefühle bestimmen unsere Wahrnehmung, sie fokussieren innerhalb eines schier unendlichen Angebots unsere Aufmerksamkeit und sie fungieren als Energielieferanten.[4] Was sonst treibt Demonstranten bei Wind und Wetter auf die Straße, lässt sie ihr wohlverdientes Wochenende opfern, wenn nicht die Angst vor Strahlenbelastung, die Sorge um das Ökosystem oder die Wut über ein millionenschweres Bahnhofsprojekt, das über ihre Köpfe hinweg beschlossen wurde? Es braucht Energie, das gemütliche Sofa zu Hause zu verlassen; man denke nur an die Blockaden der Atommülltrans­porte, bei denen die Aktiven tage-, ja nächtelang im Freien ausharren, um den Transport für wenige Stunden aufzuhalten. Reichen für das Aufsichnehmen solcher Strapazen in ständiger Auseinandersetzung mit der Polizei sachliche Überlegungen wie die, dass die Endlagerung des Atommülls noch immer ein ungelöstes Problem ist, aus? Oder bedarf es hierzu nicht einer gehörigen Portion Angst oder Wut?

Das Mitlaufen in einer Massendemonstration »sei diejenige Aktivität, die durch Verbindung von Körpererfahrung und emotionaler Intensität dem Sex am nächsten komme«, hat Eric Hobsbawm einmal gesagt.[5] Wird die beschrie­bene Mühsal also durch einen kollektiven Sinnesrausch im Treiben der Masse wettgemacht? Dass Gruppenerlebnisse euphorische Glücksgefühle auslösen können, ist vielfach belegt. Das Verlieren der Ich-Grenzen durch die Ver­schmelzung mit der Gruppe lässt das Gefühl einer tiefen Verbundenheit und Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen entstehen. Das von Freud als »ozea­nisches Gefühl« beschriebene Erleben geht mit der Phantasie von Allmacht und Ewigkeit einher und setzt so ungeahnte Energien frei. Mit besonders emotional aufgeladenen Aktionen, wie dem gemeinsamen Skandieren von Parolen oder dem Singen von Protestliedern, erreichen die Gemeinschafts­gefühle ihre Höhepunkte, im kollektiven Taumel fühlt sich der Einzelne eins mit der Masse. In der Tat erfahren Gefühle in großen Menschenansammlun­gen eine immense Steigerung, schon Emile Durkheim beschrieb kollektive Gefühle als die stärksten Gefühle überhaupt.

Gefühle wirken ansteckend

Doch wie lassen sich diese Bilder enthemmter, irrationaler, sich im Rausch befindlicher Menschenmengen mit der »Zärtlichkeit der Massen«, als welche Kermani die Solidarität der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz beschreibt, in Einklang bringen? Liest man die Berichterstattungen über den Arabischen Frühling, ist nicht zu übersehen, dass die Volksaufstände von starken Emo­tionen getrieben waren. Die Menschen klagten die herrschenden Eliten nicht allein wegen ihrer fehlenden wirtschaftlichen Zukunftschancen an, sondern ebenso der Korruption, der staatlichen Willkür und politischen Unterdrü­ckung. Die Demonstranten fühlten sich von alltäglich erfahrener Korruption gedemütigt, von willkürlichen Maßnahmen der Staatsbeamten beschämt, durch grundlose Inhaftierungen und brutale Folter ins Unrecht gesetzt. Was die Menschen auf dem Tahrir-Platz ihre Angst vor der brutalen Staatsgewalt überwinden ließ, war ihr Zorn über jahrzehntelang erlittene Beschämungen: »Kaum ein Wort hörte ich öfter als das Wort ›Würde‹«, so der Politikwissen­schaftler Abdel-Samad, der die Menschen auf dem Tahrir-Platz nach ihren Zielen befragte.[6] Die hier zum Ausdruck kommende Sehnsucht nach An­erkennung und Respekt zeigt deutlich, dass der Arabische Frühling nicht allein von Armut und materiellen Interessen motiviert war. Tunesien galt als das wettbewerbsfähigste Land Afrikas und dennoch nahmen die arabischen Revolten von hier ihren Ausgang. Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi, mit der die massenhaften Proteste ausgelöst wurden, lässt sich als ein typischer Schmetterlingseffekt[7] beschreiben: Wachsende Arbeitslosigkeit und steigende Lebensmittelpreise, kontrastiert durch das ausschweifende Leben der Eliten, hatten eine spannungsgeladene Stimmung entstehen lassen. In diesem Spannungsfeld reichte ein »kleiner Funke« aus, um einen Flächenbrand entstehen zu lassen. Bouazizi war vor seinem Selbst­mord mehrfach von Staatsbeamten schikaniert und drangsaliert worden, weil er sich weigerte, das übliche Bestechungsgeld zu bezahlen. Sein Mut, sich der Korruption zu wiedersetzen und seine anschließende Verzweiflungstat lösten innerhalb der Bevölkerung eine emotionale Resonanz aus, die sich von Tunesien aus unaufhaltsam auf die übrigen arabischen Länder übertrug. Wut und Empörung wurden zu Leitgefühlen, die kollektiv gebündelt eine enorme Energiequelle darstellen, welche die millionenfache Beteiligung an den »Tagen des Zorns« erst möglich machte. Dort suchten sich die Menschen von der beschämenden Unterdrückung und Entmündigung zu befreien, sie suchten nach Würde und Anerkennung und fanden diese in dem Miteinander unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen. Die sich einstellenden Ge­meinschaftsgefühle bildeten die Grundlage für Hilfsbereitschaft, Einfühlung und gegenseitigen Respekt. Innerhalb der Protestbewegung entwickelten sich diese Gefühle zu positiven Leitgefühlen, welche die »Zärtlichkeit der Massen« ausmachte. Die den Protest auslösenden »negativen« Leitgefühle der Wut und Empörung richteten sich ausschließlich nach außen, gegen die herrschenden Eliten. Aggressive Gefühle wie Zorn und Wut gelten häufig als destruktiv und verwerflich. Doch so wie bei einem körperlichen Angriff das Überleben von aggressiver Gegenwehr abhängig sein kann, so kommt der Aggression auch bei der Wahrung der Identität und dem Schutz der Selbstwertgefühle eine zentrale Bedeutung zu. Aggressive Reaktionen haben die Funktion, Grenzen zu setzen und damit Angriffe auf die Identität abzuwehren. Der Gefährdung einer sinnstiftenden Identität kann als ebenso bedrohlich empfunden werden wie eine Gefahr für Leib und Leben, so können auch »negative« aggressive Gefühle durchaus eine lebensnotwendige Funktion erfüllen. Was die Men­schen auf dem Tahrir-Platz vereinte, war der Wille, sich durch die Wieder­herstellung ihrer Würde gegen die identitätszerstörenden Beschämungen und Demütigungen durch ein korruptes Staatsregime zu wehren.

Besonders bei Zusammenkünften großer Menschenmassen wirken Ge­fühle hochgradig ansteckend, kollektiv gebündelt können sich auch diffuse Stimmungen zu spezifischen Leitgefühlen herauskristallisieren, die in Folge das gesamte Geschehen dominieren. Innerhalb der Gesellschaftswissenschaf­ten gelten zumeist die mit wirtschaftlichen Notlagen verbundenen materiellen Interessen als Auslöser politischer Proteste. Doch vermögen wirtschaftliche Aspekte allein die Ereignisse nicht zu erklären. Der Arabische Frühling ist ein beeindruckendes Beispiel eines emotionalen Resonanzphänomens, das sich weit über den arabischen Raum ausgedehnt hat: Die europäischen und amerikanischen bankenkritischen Proteste im Jahr 2011 waren von den arabischen Revolten inspiriert, von Madrid, Lissabon über Tel Aviv bis New York galt den Menschen die Besetzung des Tahrir-Platzes als Vorbild der symbolträchtigen Inbesitznahme öffentlicher Plätze.

Die Resonanz kollektiver Gefühle

Solche Resonanzphänomene werden häufig durch einfache kurze Slogans (»Yes, we can!«[8]) weitergetragen, in ihnen erfahren die entsprechenden Ge­fühle eine symbolische Verdichtung. Während der Verstand analytisch zer­gliedernd arbeitet, stiften Gefühle Zusammenhänge und wirken synthese­bildend.[9] Einprägsame Slogans bringen einerseits eine latent vorhandene Stimmung auf den Punkt, andererseits bleiben sie so unbestimmt, dass sich eine große Anzahl von Menschen davon angesprochen fühlt. In Ägypten ver­sammelte sich hinter dem einfachen Ausruf »Genug!« (arabisch: »Kifaya«) eine heterogene Anhängerschaft aus links wie bürgerlich orientierten Mittel­schichtsangehörigen, Säkularen und Mitgliedern der Muslimbrüderschaft zu der sogenannten »Kifaya-Bewegung«, die, 2004 gegründet, zu einem wesent­lichen Mitinitiator der Protestkundgebungen auf dem Tahrir-Platz wurde.

Bei den Großdemonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 stieß die doppeldeutige Botschaft »Oben bleiben« auf breite Zustimmung. In dieser Aufforderung verband sich die Verweigerung eines unterirdischen Bahn­hofes mit der basisdemokratischen Haltung, die von Politik und Wirtschaft getroffenen Entscheidungen nicht weiterhin unhinterfragt hinzunehmen. Vor dem Hintergrund allgemeiner Politikverdrossenheit erzielte der Slogan »Oben bleiben« eine Ausstrahlungskraft, die weit über den lokalen Anlass des Bahnhofsprojektes hinaus für eine Art »demokratische« Aufbruchsstimmung sorgte. Die deutschlandweite Resonanz zeigte sich beispielsweise daran, dass der »Schwabenstreich«, das in Stuttgart stattfindende Eröffnungsritual der Montagsdemonstrationen, zeitweilig nicht nur in ganz Baden-Württemberg sondern in zahlreichen deutschen Städten (ja sogar in New York, Paris und Dublin) stattfand. Die Vorstellung, dass man sich mit dem gleichzeitigen ein­minütigen Lärmen mit Trillerpfeifen, Kochtöpfen und Ähnlichem bei Politik und Wirtschaft wirksam Gehör verschaffen könne, begeisterte viele Menschen auch außerhalb Stuttgarts. Gleichzeitig stärkte diese emotionale Resonanz wiederum die lokale Protestbewegung gegen Stuttgart 21, von der die Welle des Protestes ausgegangen war.

Intensivierung erfahren solche kollektiven Phänomene durch Gemein­schaftsgefühle, die mit der Teilhabe an Großereignissen einhergehen. Ge­meinsam für ein und dasselbe Ziel einzutreten, ist mit intensiven positi­ven Gefühlen verbunden. Teil von einem großen Ganzen zu sein – das Dazugehören – kann sich ebenso erhebend anfühlen, wie das Ausgegrenzt­werden extrem schmerzhafte Gefühle auslöst. Auch ohne stets in eine rausch­hafte Auflösung der Ich-Grenzen zu münden, hebt die mit gemeinsamen Zielen entstehende Verbundenheit den Abstand auch zwischen Unbekann­ten auf: »Wer auf dem [Stuttgarter, d. A.] Bahnhofsgelände ankommt, steht nicht lange alleine. Freundlich begrüßen die Leute einander, schütteln fleißig Hände, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter.«[10] Die im Alltag geltenden Regeln des Abstandwahrens gegenüber Fremden werden spielend überwun­den, das Gefühl der Zugehörigkeit geht mit intensiven Glücksgefühlen einher.

Diese besondere Anziehungskraft von Wir-Gefühlen lässt sich auch an dem Slogan der Occupy Wall Street-Bewegung ablesen: »We are the 99 %«. An den 99 Prozent teilzuhaben, sich wieder zugehörig zu fühlen, begeistert die Teilnehmer und gibt Anlass zu neuer Hoffnung. Auch die Geschwindig­keit, mit der sich die Occupy-Bewegung unter diesem Motto ausbreitete, lässt die Resonanz kollektiver Gefühle erkennen, die, einmal entstanden, große Energien freizusetzen vermögen. Energien, die gebündelt der Masse durch­aus Macht verleihen können.

In dem Eintrag »Occupy Wall Street« bei Wikipedia ist ein beeindruckendes Foto zu sehen: die Charging-Bull-Figur in der Nähe zur Wall Street, einge­rahmt von Absperrungsgittern, bewacht von drei massigen Polizeibeamten. Symbolträchtiger kann man die Bedrohungsgefühle der Adressaten des Pro­testes kaum ausdrücken: Das Symbol für die Kraft und Unbezähmbarkeit des Finanzmarktes von Polizisten beschützt! Dies zeigt: Massenproteste lösen nicht nur bei den Teilnehmern intensive Gefühle aus, sondern ebenso bei den Protestgegnern. Die brutalen Polizeieinsätze, mit denen die New Yorker Polizei versuchte, jegliche Proteste in der Nähe der Wall Street im Keim zu ersticken, zeigen in aller Deutlichkeit die Angst der Machtinhaber vor einer sich entwickelnden Gegenmacht – wie begründet diese Angst auch sein mag. In den USA wurden die Occupyer als chaotische Kriminelle diffamiert – als der »Mob«, der nichts als ziellose Gewalt im Sinn habe. Die Stadt Frankfurt sah sich veranlasst, die im Mai 2012 geplanten bankenkritischen Aktions­tage des Bündnisses »Blockupy Frankfurt« gleich ganz zu verbieten – die gerichtlich zugelassene eintägige Großdemonstration blieb entgegen aller vorher verbreiteten Schreckensszenarien friedlich. Gewalttätige Polizeiüber­griffe, Diffamierungen und Versammlungsverbote zeigen, worum es bei poli­tischen Großveranstaltungen immer auch geht: um einen Kampf um Macht. So machtlos sich die Demonstranten auch häufig fühlen, an den Reaktionen der Staatsgewalt ist die Furcht vor der Durchsetzungsfähigkeit der Massen deutlich abzulesen. Dass große Menschenmengen viel bewegen können, ist beiden Seiten mit den arabischen Revolten noch deutlich vor Augen. Je mehr Menschen sich national wie international hinter dem gleichen Motto versammeln, umso intensiver werden mit den Gemeinschaftsgefühlen auch die Leitgefühle, welche die Aktionen initiiert haben.

Der »Mob« beginnt zu denken

Doch lassen sich politische Strukturen oder die Regeln der Finanzmärkte weder durch einschlägige Slogans noch durch kollektive Euphorie verändern. Dass es hierzu eines langen Atems bedarf, zeigt der gesellschaftliche Um­bauprozess in den arabischen Ländern in aller Deutlichkeit. Zudem können intensive Gefühle genauso schnell abflauen, wie sie entstanden sind. Doch wäre der Sturz der arabischen Regierungen ohne die »Tage des Zorns« kaum möglich gewesen. Dass die Proteste erfolgreich waren, liegt aber nicht zu­letzt daran, dass die Aufständischen wohlüberlegte Motive hatten: ihre durch Arbeitslosigkeit und Armut bedingte Perspektivlosigkeit im Kontrast zu einem korrupten System, in dem die herrschenden Eliten ihren exzessiven Reich­tum auf Kosten des Allgemeinwohls sicherten. Auch die bankenkritischen Protestbewegungen in Europa und den USA haben Grund, sich zu empö­ren: hohe Arbeitslosigkeit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, ungleiche Bildungschancen, Abbau der Sozialsysteme und vieles mehr. Der Politologe Wolfgang Kraushaar bringt die Gemeinsamkeit beider Protestbewegungen bereits im Titel seines neuesten Buches[11]»Der Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung« zum Ausdruck. Entgegen der vorherrschenden medialen Darstellung der Occupyer als »Chaoten« und »Krawallmacher« zeichnet Kraushaar ein differenziertes Bild der Akteure, wo­bei er zu dem Ergebnis kommt, dass viele der Prekarisierten ihre individuell erfahrenen sozialen Notlagen zunehmend mit der gesamtgesellschaftlichen Ökonomisierung in Verbindung zu bringen wissen. Die Liberalisierung der Wirtschaft und Deregulierung der Finanzmärkte gehen mit einem Ethos des Gewinnstrebens, des Eigennutzes und Konkurrenzdenkens einher, das sich auch in wirtschaftsferne Bereiche wie Kultur, Bildung und Soziales tief einge­graben hat. Die Empörung über diese ausschließliche Orientierung an Profit­maximierung lässt sich in verschiedenen Manifesten der Protestbewegungen, die Kraushaar in vollem Wortlaut zitiert, sachlich wohlbegründet nachlesen. Mit ihren Forderungen treten die Aktivisten nicht für eine schlichte materielle Besserstellung ein, sondern für gesellschaftliche und politische Teilhabe, wirt­schaftliche Nachhaltigkeit und generationenübergreifende Solidarität, wobei sie sich ausdrücklich an der Zukunft der gesamten Gesellschaft orientieren.[12] Sie appellieren an ein vermeintlich verloren gegangenes Gerechtigkeitsgefühl und bringen in ihrem Demokratieverständnis moralisch-ethische Maßstäbe zum Ausdruck, mit denen sie die gesellschaftlichen Eliten durchaus unter Legitimierungszwang stellen. Hier wird deutlich: Die sich weltweit auf öf­fentlichen Plätzen Versammelnden sind nicht die irrationale, triebhaft ent­hemmt handelnde Masse – es ist ein »Aufruhr der Ausgebildeten«, die ihre Empörung und Wut sachlich zu begründen wissen: »Der »Mob« beginnt zu denken und zu räsonieren.«[13]

2011 kürte das Nachrichtenmagazin Time »den Demonstranten« zur Per­son des Jahres: »Dafür, dass es ihm gelang, ein weltweites Gefühl ruheloser Versprechen zu fokussieren und sichtbar zu machen, Regierungen und kon­ventionelle Lehren zu stürzen, die älteste der Techniken mit den neuesten Technologien zu vereinen, um menschliche Würde ins Rampenlicht zu stellen, und schließlich, um den Planten auf einen demokratischeren, wenn auch si­cherlich gefährlicheren Weg für das 21. Jahrhundert zu führen, dafür wurde der Demonstrant die Person des Jahres 2011«, heißt es in der Begründung der Wahl.[14] Diese positive Bewertung könnte innerhalb der Gesellschafts­wissenschaften nicht nur zu einer Wiederbelebung des Massethemas führen, sondern auch zu einer Neubewertung. Als Ergebnis gegenseitiger Resonanz könnte eine veränderte Sichtweise auf Massenphänomene der sich global aus­breitenden Protestbewegung zu dauerhaftem Aufschwung verhelfen. Wenn es hierbei gleichzeitig gelingen sollte, die Irrationalität der Banken- und Börsen­geschäfte, ihrer Leerverkäufe, ihrer Spekulationen mit Nahrungsmitteln, ihrer Wettgeschäfte – ihrer enthemmten Gier nach Geld und Macht – zu entlarven, so könnte diese Entmystifizierung vielleicht zu einer völligen Umbewertung emotionaler Phänomene führen, und im Umkehrschluss zur Stärkung all jener, die sich mit Empörung gegen das Primat der Wirtschaft wenden.

Anmerkungen:

[1] Navid Kermani, Zärtlich-keit der Massen, in: Frankfurter Rundschau, 17.02.2012.

[2] Vgl. Helmut König, Wieder-kehr des Massethemas, in: Ansgar Klein u. Frank Nullmeyer (Hg.), Masse – Macht – Emotionen, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 27–39.

[3] Jassien Kelm, Der Wutbürger, der keiner sein will, in: Süd-deutsche Zeitung, 29.12.2010.

[4] Vgl. Luc Ciompi, Die emotionalen Grundlagen des Denkens, Göttingen 1997, S. 94–99.

[5] Jürgen Kaube u. Eric Hobsbawn, Das Körpergefühl und die Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.06.2012.

[6] Hamed Abdel-Hamad, Krieg oder Frieden, München 2011, S. 52; vgl. auch Khaled Alkhamissi, Ein Gefühl von Würde, in: Frankfurter Rundschau, 04.02.2011.

[7] Vgl. Luc Ciompi u. Elke Endert, Gefühle machen Geschichte, Göttingen 2011, S. 31.

[8] Auch der Wahlkampf Barack Obamas 2008, der mit seinen Botschaften der Hoffnung und des gesellschaftlichen Wandels nahezu die gesamte Welt in er-wartungsvolle Euphorie versetzte, ist ein für sich selbst sprechendes Beispiel emotionaler Resonanz.

[9] Vgl. Ciompi, Die emotionalen Grundlagen des Denkens; vgl. auch Hans-Peter Waldhoff, Verhängnisvolle Spaltungen, Göttingen 2009.

[10] Nadine Michel, Eine Stadt wehrt sich, in: die tageszeitung, 10.07.2010.

[11] Wolfgang Kraushaar, Der Aufruhr der Ausgebildeten, Hamburg 2012.

[12] Vgl. das Manifest der portugiesischen Protestbewegung Movimento 12 de Marco, S. 47 f.

[13] So schrieb 1774 der Oberste Richter New Jerseys, Gouverneur Morris, in einem Brief an John Penn, in dem er über eine Massenversammlung in New York berichtet. Handwerker und Kaufleute hatten sich zusammen-gefunden, um über Reaktionen auf die Schließung des Bostoner Hafens durch die Briten zu beratschlagen. Zit. n. David Graeber, Inside Occupy, Hamburg 2012, S. 108.

[14] O.V., »Der Demonstrant« – Die TIME Person des Jahres 2011, URL: http://www.presseportal.de/pm/103722/ 2165973/-der-demonstrant-die-time-person-des-jahres-2011 [zuletzt eingesehen am 08.06.2012].

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2012| © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2012