Wer Führung bestellt? Olaf Scholz’ sicherheitspolitische Schlüsselentscheidungen vor dem Hintergrund der Zeitenwende

Von Philipp van Helden

Mit dem Ampel-Aus im November 2024 endete die selbsterklärte Fortschrittskoalition aus SPD, Grünen und FDP, die vor allem durch inhaltliche – häufig öffentlich ausgetragene – Streitigkeiten in Erinnerung bleiben wird. Der 27. Februar 2022 ragt indes als ein Moment ungewöhnlicher Geschlossenheit, zumindest der verantwortlichen Regierungsmitglieder der drei Koalitionspartner, hervor. Als Bundeskanzler Olaf Scholz wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine seine Regierungserklärung vor dem Bundestag abgibt, versucht er damit eine grundsätzliche Neujustierung der seit 1990 etablierten deutschen außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung einzuleiten.[1] Zweifelsohne ist die »Zeitenwende-Rede« als bedeutsamste und vor allem wirkmächtigste Ansprache von Olaf Scholz anzusehen. Die mit ihr verbundenen politischen Weichenstellungen sind so weitreichend, dass es lohnend erscheint, einen genaueren Blick auf die Umstände zu werfen, unter denen die damit verbundenen weitreichenden Entscheidungen getroffen worden sind.

Eine neue strategische Umwelt

Dem Clausewitz’schen Strategieverständnis folgend sind strategische Analysen und Entscheidungen als ein Kalkulationsprozess zu verstehen, in dessen Folge Zielsetzungen definiert und die zur Erreichung dieser Ziele notwendigen Mittel identifiziert werden. Dieser Kalkulationsprozess unterliegt jedoch bestimmten Restriktionen, die durch vorhandene Ressourcen und kulturelle Gepflogenheiten, vor allem aber durch die Umwelt, in der jene Entscheidungen getroffen werden, erzeugt werden. Die Analyse der Umwelt definiert somit den möglichen strategischen Handlungsrahmen und gibt auch vor, welche Ziele umsetzbar beziehungsweise realistisch erscheinen. Erfolgreiches strategisches Handeln setzt also eine Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulation voraus, die möglichst viele endogene und exogene Variablen einbezieht, ohne dabei die entscheidende Verbindung zwischen Zielen und Mitteln zu vernachlässigen.[2] Auf den ersten Blick scheint dieser Prozess ein klarer – fast mathematisch anmutender – Vorgang zu sein, dessen Erfolg lediglich auf einer größtmöglichen Kenntnis aller zu berücksichtigenden Variablen beruht. Begibt man sich aus dieser theoretischen Perspektive allerdings in die reale Welt der Politik, wird deutlich, dass politische Entscheidungsträger in Schlüsselmomenten zumeist gezwungen sind, in kürzester Zeit aus einem Zustand der Unwissenheit über die zukünftigen Ereignisse zu agieren. Henry Kissinger wies in diesem Zusammenhang auf das Paradoxon hin, dass in jenen Momenten, in denen der größte Handlungsbedarf besteht, auch das höchste Maß an Unwissenheit vorherrscht. Gleichzeitig bietet diese Unwissenheit den größtmöglichen Handlungsspielraum, da eine Kalkulation unter Berücksichtigung aller Variablen nicht oder nur eingeschränkt möglich erscheint. Nach Kissinger zeichnet sich Staatskunst folglich durch die Fähigkeit aus, gute Entscheidungen unter diesen Voraussetzungen intuitiv und schnell zu treffen.[3]

Wenige Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine befand sich die Bundesregierung eindeutig in einem solchen Moment, der schnelle Handlungen unter unklaren Bedingungen und unter Ungewissheit über den Verlauf der zukünftigen Ereignisse erforderte. Russische Einheiten standen in Kiewer Vororten und der Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung binnen weniger Tage oder Wochen schien auch den meisten Expertinnen und Experten als wahrscheinlich. Gleichzeitig war die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts auf das Bündnisgebiet der NATO nicht auszuschließen. Was aber bereits zu jenem Zeitpunkt feststand, war, dass sich mit der Rückkehr eines offenen territorialen und eindeutig völkerrechtswidrigen Konflikts in Europa die bereits 1973 in der Schlussakte von Helsinki festgeschriebenen Rahmenbedingungen der europäischen Sicherheitsarchitektur – insbesondere die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität aller Staaten sowie der Verzicht auf Gewalt als Mittel der Durchsetzung politischer Interessen – verschoben haben. Insofern agierte die Bundesregierung in einer grundlegend neuen strategischen Umwelt. An dieser Stelle scheint es angebracht, auf ein häufig erkennbares semantisches Missverständnis im Zusammenhang mit der »Zeitenwende-Rede« aufmerksam zu machen, denn der Bundeskanzler weist mit seiner Aussage »wir erleben eine Zeitenwende«[4] darauf hin, dass der Ausgangspunkt seiner politischen Entscheidungen die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen in Europa ist. Entsprechend beschreibt die Zeitenwende nicht die aus ihr hervorgehenden Entscheidungen, sondern der russische Angriff selbst ist die Zeitenwende.

Das Kanzleramt als Taktgeber

Die detaillierte Rekonstruktion politischer Entscheidungsprozesse gestaltet sich besonders dann schwierig, wenn die Zeitachse in Relation zur Tragweite der politischen Entscheidungen besonders kurz erscheint. Entsprechend muss für die Analyse des Entscheidungsprozesses primär auf die zugänglichen öffentlichen Aussagen der handelnden Akteure zurückgegriffen werden. Gleichzeitig kann aber auch der grundsätzliche strukturelle Aufbau der Bundesregierung, allen voran der des Bundeskanzleramts, als Anhaltspunkt dienen.

Unmittelbar nach der Regierungserklärung wurde deutlich, dass der Kreis der an dem Entscheidungsprozess Beteiligten ungewöhnlich klein gehalten worden war und die Prozessesführung im Kanzleramt gelegen hatte.[5]

Aufseiten des Bundeskanzlers sind vor allem Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, der damalige beamtete Staatssekretär Jörg Kukies, Scholz’ außen- und sicherheitspolitischer Berater und Leiter der Abteilung 2 Jens Plötner sowie Regierungssprecher Steffen Hebestreit als engste Berater hervorzuheben. In diesem Kreis wurden die Grundzüge und Inhalte der Rede und die damit verbundenen politischen Entscheidungen skizziert, die der Bundeskanzler in fünf Handlungsaufträge zusammenfasste: die Unterstützung der Ukraine (1), die Abbringung Putins von seinem Kriegskurs (2), eine Verhinderung der Eskalation des Konflikts (3), mehr Investitionen in die Sicherheit (4) und eine Neuausrichtung der deutschen Diplomatie ohne Naivität (5).[6]

Aus diesen Handlungsaufträgen ergeben sich auch die weiteren einzubeziehenden Akteure der Bundesregierung, die für ihre Umsetzung unabdingbar sind. Für die Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik war die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht als Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt über die deutschen Streitkräfte unentbehrlich. Vor allem mussten die Handlungsbedarfe im Bereich der Ausstattung aller Teilstreitkräfte zusammengeführt und priorisiert werden, wobei insbesondere die Einrichtung des Sondervermögens über hundert Milliarden Euro sowie die Ankündigung, F-35 Kampflugzeuge aus den USA anzuschaffen, hier besonders hervorzuheben sind. Aber auch für die Unterstützung der Ukraine sollte der Verteidigungsministerin zu einem späteren Zeitpunkt noch eine hervorgehobene Rolle zukommen, besonders, als es um die Frage nach möglichen Waffenlieferungen aus den Beständen der Bundeswehr und die Ausbildung ukrainischer Soldaten an deutschen Waffensystemen ging. In seiner Rede blieb Olaf Scholz bei der Frage nach der konkreten Unterstützung für die Ukraine noch vage. Erst im Laufe des Jahres 2022 war ein Kurswechsel hin zu einer Policy zu erkennen, die auch die Lieferung von (schweren) Waffensystemen aus Deutschland beinhaltet.

Außenministerin Annalena Baerbock sollte die neue Ausrichtung der deutschen Diplomatie (5) unter der Leitlinie »so viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein […]«, mit ihrem Haus umsetzen.[7] Das traditionelle Gerangel zwischen Auswärtigen Amt und Kanzleramt um die Grundzüge der deutschen Außenpolitik scheint hier kaum eine Rolle gespielt zu haben – wohl auch, weil ein grundsätzlicher Konsens über die Notwendigkeit der Anpassung herrschte und weil die Implikationen dieser Neuausrichtung überschaubar waren. Schließlich bezog sich die attestierte Naivität  im Wesentlichen auf die Beziehung zur Russischen Föderation, und das Scheitern  der bisherigen Russlandpolitik war wenige Tage nach der russischen Vollinvasion schwerlich zu übersehen.[8] Zu dieser gescheiterten Russlandpolitik gehörte auch die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas, vor der die meisten Verbündeten nachdrücklich gewarnt hatten und die mit dem Bau der Pipeline Nordstream 2 ein Mahnmal auf dem Grund der Nordsee erhalten hatte. Russlands Überfall auf die Ukraine bedeutete ein abruptes Ende der kostengünstigen Energieversorgung mit russischem Gas und stellte nicht nur die deutschen Bürgerinnen und Bürger vor Herausforderungen, sondern besonders die durch die Coronakrise bereits stark gebeutelte deutsche Wirtschaft. Entsprechend war die Einbindung von Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck notwendig, der vor allem durch Subventionierungen die Preisexplosion für Energie stoppen, die Gasspeicher füllen und schnell neue Lieferwege für günstiges Gas erschließen sollte – unter anderem durch zwei neue LNG-Terminals, deren Bau der Kanzler in seiner Regierungserklärung ebenfalls ankündigte.

Für die Umsetzung all dieser Vorhaben war vor allem eines notwendig: Geld. Und der Mann mit dem Geld war zu jenem Zeitpunkt Finanzminister Christian Lindner. Lindner, der sich im Laufe der Legislatur vor allem durch finanzpolitische Zurückhaltung hervorgetan hatte, legte zusammen mit dem Bundeskanzler die Höhe des Sondervermögens fest und war wohl aus den Reihen des Kabinetts am stärksten in den Entscheidungsprozess eingebunden. Später sollte Lindner das Sondervermögen sogar als seine eigene Initiative bezeichnen.[9] Die Einbindung von Lambrecht, Baerbock, Habeck und Linder scheint demnach durch die Inhalte der formulierten Handlungsaufträge vorgegeben gewesen zu sein, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, dass die letzteren drei auch als Vertreter der Koalitionspartner in der Bundesregierung fungierten, ohne deren Unterstützung die Umsetzung der mit der Zeitenwende verbundenen Entscheidungen nicht möglich gewesen wäre. Besonders hervorzuheben ist dabei die Tatsache, dass keine gemeinsamen Verhandlungen im Kabinett stattgefunden haben, sondern die beteiligten Ministerinnen und Minister individuell informiert und konsultiert wurden. Der Ablauf des Entscheidungsprozesses führt daher unweigerlich zu der Frage nach der Rolle des Bundeskanzlers im politischen System der Bundesrepublik: Hier blitzt ein Adenauer’sches Amtsverständnis auf, das sich wesentlich von der sonstigen Rezeption von Olaf Scholz’ Führungsstil zu unterscheiden scheint. Besonders deutlich wird dies mit Blick auf das Parlament und vor allem die Regierungsfraktionen.

Fraktionen und Opposition steigen auf den Zug auf

Im politischen System der Bundesrepublik kommt den regierungstragenden Parteien eine herausragende Rolle im politischen Entscheidungsprozess zu – nicht nur, weil ihre Zustimmung im Parlament für die allermeisten Regierungsentscheidungen zwingend ist, sondern auch, weil das Amt des Regierungschefs an die Mehrheit im Parlament geknüpft ist.[10] Auch wenn Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik traditionell eher eine Sache der Exekutive sind, ist die Rolle des Bundestags und seiner Ausschüsse – gerade im Zusammenhang mit den Entscheidungen vor dem Hintergrund der Zeitenwende – zentral. Der Verteidigungsausschuss muss, als einer der wenigen verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Ausschüsse, Beschaffungsprojekten bereits niedrigschwellig Zustimmung erteilen. Zudem waren auch die haushaltspolitischen Implikationen so weitreichend, dass dem Bundestag absehbar eine bedeutsame Aufgabe bei der Umsetzung der Maßnahmen zukommen würde. Vor allem aber war für die Einrichtung des Sondervermögens eine Verfassungsänderung notwendig, für die eine Zweidrittelmehrheit und somit die Unterstützung der Opposition zwingend ist.

Die Mitglieder des Bundestags waren vor Scholz’ Regierungserklärung nicht über deren konkreten Inhalte informiert worden. Selbst der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich wusste nur vage darüber Bescheid, was der Bundeskanzler ankündigen würde.[11] Seine fehlende Einbeziehung scheint mit Blick auf die erwartbare Umstrittenheit der angekündigten Maßnahmen in der SPD-Fraktion durchaus überraschend. Mit der Anschaffung der F-35 wurde die Frage nach der Zukunft der nuklearen Teilhabe Deutschlands, die kurz zuvor im Koalitionsvertrag noch umschifft wurde, im Prinzip abgeräumt, da die amerikanischen Kampfjets in der Lage sind, als Trägersystem für die in Deutschland stationierten Atomwaffen zu fungieren.[12] Auch die Einrichtung des Sondervermögens in Höhe von hundert Milliarden Euro bedeutete, dass knapp das Doppelte des im Verteidigungshaushalt vorgesehenen Budgets zusätzlich in Rüstung investiert werden sollte. Bei den Fraktionsmitgliedern der SPD, in der es traditionell einen starken pazifistischen Flügel gibt, sowie bei einigen Grünen, deren Partei historisch zumindest ein ambivalentes Verhältnis zum Thema Bundeswehr und Rüstung hat, muss diese Ankündigung gedämpfte Gefühle ausgelöst haben, was durch die Aussagen führender Politikerinnen und Politiker unmittelbar nach der Rede unterstrichen wurde. Für die FDP stellte die Ankündigung in erster Linie eine finanzpolitische Herausforderung dar, schließlich wurde die Aufnahme neuer Schulden unvermeidlich. Dass die Entscheidungen für viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier im höchsten Maße problematisch waren, sollte sich auch im Zeitverlauf bis zum Ende der Koalition immer deutlicher zeigen. Genau dies unterstreicht aber, dass am 27. Februar 2022 ein besonderes Momentum vorherrschte, das der Bundeskanzler für sich nutzte, um seine proklamierten Handlungsaufträge und deren Umsetzung alternativlos erscheinen zu lassen. Diese tatsächliche oder scheinbare Alternativlosigkeit galt jedoch nicht nur für die Regierungsfraktionen, sondern auch für die Union als größte Oppositionsfraktion im deutschen Bundestag. Bundeskanzler Scholz brachte Oppositionsführer Friedrich Merz und dessen Fraktion mit seinen Ankündigungen in eine politische Zwickmühle: Auf der einen Seite sollte der politische Hebel für die Union durch die notwendige Verfassungsänderung äußerst lang werden, auf der anderen Seite deckten sich die Ankündigungen von Olaf Scholz mit zentralen Positionen der Union, die auch noch 2021 im Wahlprogramm festgeschrieben worden waren.[13] Eine klassische Oppositionspolitik, die die Arbeit der Regierung kritisiert und letztlich ablehnt, war vor diesem Hintergrund kaum möglich und das selbstproklamierte Selbstverständnis der CDU als Partei mit staatspolitischer Verantwortung erschwerte – mit Blick auf die vermeintliche Alternativlosigkeit – die Umsetzung einer konträren Positionierung. Es müsste wohl lange in den Archiven des Bundestags nach einem Moment gesucht werden, in dem sich nach einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler die größte Oppositionspartei für Standing Ovations erhob, der Oppositionsführer dem Bundeskanzler explizit für seine Ansprache dankte und auch der zu der Regierungserklärung gehörende Entschließungsantrag unterstützt wurde.[14] Auch hier ist die historische Bedeutung der »Zeitenwende-Rede« für die Bundesrepublik hervorzuheben und verdeutlicht, welche starke Position der Bundeskanzler im System der Bundesrepublik unter bestimmten Voraussetzungen einnehmen kann.

Die Zeitenwende-Rede als Schlüsselentscheidung

Olaf Scholz ist mit seiner Regierungserklärung und vor allem mit dem damit verbundenen Entscheidungsprozess ein hohes Wagnis eingegangen, da zentrale informelle Mechanismen der politischen Willensbildung gemieden wurden. Die anderen Regierungsmitglieder wurden zwar nach Bedarf einbezogen, aber von einem innerkoalitionären Deliberationsprozess, der bei anderen kritischen Themenkomplexen häufig zu öffentlich ausgetragenen Streitigkeiten geführt hat, kann hier nicht die Rede sein. Auch die Fraktionen des Bundestags wurden zuvor nicht eingeweiht, was die Fallhöhe zusätzlich steigerte und ein Scheitern der politischen Initiative wahrscheinlicher machte.

Allerdings hat die Veränderung der strategischen Umwelt zu einem Momentum geführt, in dem lange überfällige Entscheidungen unausweichlich schienen. Mit seiner Flucht nach vorn und dem Schaffen von Tatsachen hat der Bundeskanzler diesen Moment klug genutzt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass auch in der deutschen Bevölkerung nach dem russischen Angriff große Unsicherheit vorherrschte und die Bedrohungsperzeption massiv zugenommen hatte.[15] Den sich daraus ergebenen politischen Handlungszwängen unterlagen natürlich nicht nur die Mitglieder der Bundesregierung, sondern auch die Mitglieder des Parlaments.

Betrachtet man die Zeitenwende mit dem Abstand von knapp zwei Jahren und unter den Eindrücken des Scheiterns der Ampel-Koalition, muss jedoch konstatiert werden, dass sich das im Februar 2022 vorherrschende Momentum sukzessive aufgelöst hat und damit die Zeitenwende und ihre politischen Initiativen ebenfalls langsam versickert sind. Das ist zum einen auf die Uneinigkeit innerhalb der inzwischen zerbrochenen Koalition – vor allem bei finanzpolitischen Fragen – zurückzuführen; zum anderen wird immer deutlicher, dass sich das strategische Denken vieler Menschen – , vor allem in der Fraktion des Bundeskanzlers, aber auch in der Bevölkerung – doch nicht an das neue strategische Umfeld angepasst hat. Nachdem sich der Schock angesichts des russischen Angriffs langsam gelegt hatte, sind alte Denkmuster hervorgetreten, die die Zeitenwende in Stocken gebracht haben. Die Frage über den Umgang mit Russland oder auch der Diskurs um die Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen in Deutschland sind die offensichtlichsten Beispiele für diese Entwicklung. Damit verlor auch Olaf Scholz die Vorreiterrolle, die er initial in dem Prozess übernommen hatte.

[1] Vgl. Olaf Scholz, Regierungserklärung am 27.02.2022, tinyurl.com/indes251k1.[2] Vgl. Joachim Raschke & Ralf Tils, Politische Strategie: Eine Grundlegung, Wiesbaden 2013, S. 127.[3] Vgl. Henry Kissinger, Leadership – Six Studies in World Strategy, London 2022, S. 16 f.

[4] Scholz.

[5] Vgl. Stephan Lamby, Ernstfall: Regieren in Zeiten des Krieges, München 2023, S. 79 ff.

[6] Vgl. Ulf von Krause, Zeitenwende und Bundeswehr – 100 Milliarden als Chance für die deutsche Sicherheitspolitik?, Wiesbaden 2022, S. 1 ff.

[7] Scholz.

[8] Vgl. Bastian Matteo Scianna, Sonderzug nach Moskau – Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990, München 2024, S. 566 ff.

[9] Vgl. dazu ZDF-Sommerinterview mit Christian Lindner, 04.08.2024, tinyurl.com/indes251k2.

[10] Vgl. Frank Decker, Regieren im Parteienbundesstaat, Wiesbaden 2011, S. 77f.

[11] Vgl. Christian Schweppe, Zeiten ohne Wende – Anatomie eines Scheiterns, München 2024, S. 18 ff.

[12] Vgl. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten, tinyurl.com/indes251k3, S.118.

[13] Vgl. Regierungsprogramm der CDU und CSU: Das Programm für Stabilität und Erneuerung, 2021, tinyurl.com/indes251k4, S. 11 f.

[14] Vgl. Entschließungsantrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zur aktuellen Lage, Drucksache 20/846, tinyurl.com/indes251k5.

[15] Vgl. Timo Graf, Der Ukraine-Krieg als exogener Schock für das Russlandbild und die Bündnissolidarität in der deutschen Bevölkerung, in: Stefan Hansen u. a., (Hg.), Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine – Zeitenwende für die deutsche Sicherheitspolitik, Baden-Baden 2023, S. 255–280, hier S. 263 f.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2025 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2025