»Stehlen, Lügen, Töten« Ein Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess über »böse Kinder«
INDES: Böse Kinder sind ein faszinierendes gesellschaftliches Phänomen, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen anzieht, wobei die jeweiligen Begeisterungsmotive gewiss unterschiedlicher Natur sind. Es ist eine positive oder negative Faszination für die bösen Kinder des realen Lebens und mehr noch für jene aus der überzeichnenden und zuspitzenden Welt des Fiktionalen, des Literarischen, der Popkultur. Denken wir an den Struwwelpeter, an Max und Moritz oder an die den dünnen Firnis der Zivilisation aufzeigenden Jungs in William Goldings dystopischem Roman Lord of the Flies. Ein aktuelleres Beispiel ist der Film We need to talk about Kevin, der auf dem gleichtitelnden Roman der Autorin Lionel Shriver basiert, und in dem man im heranwachsenden Sohn der Protagonistin beinahe in jeder Szene das inkarnierte Böse zu sehen meint. Frau Gess, was verstehen Sie unter der Figur oder Metapher des bösen Kindes?
Nicola Gess (NG): Ich verstehe darunter eine bestimmte Figur, wie man sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in literarischen Texten und später vor allem auch in Filmen findet. Das sind Kinderfiguren, die unmotiviert oder grundlos stehlen, lügen, töten, Dinge zerstören, Menschen und Tiere quälen, keinerlei Mitgefühl zeigen und sich auch keiner Schuld bewusst sind oder keine Schuld zu empfinden scheinen. Besonders irritierend oder verstörend ist an diesen Kinderfiguren, dass sie ihr Handeln so geschickt verbergen, dass zunächst nicht sie, sondern ihr Umfeld oder die Personen, die zum ersten Mal auf dieses Handeln aufmerksam machen, von der Umwelt als gestört oder verdächtig wahrgenommen werden. Das böse Kind existiert also in einem Kontext, zu dem auch andere Figuren gehören, typischerweise Eltern, aber auch andere (Erzieher-)Figuren. Das böse Kind ist immer in einem Beziehungsnetz situiert.
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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024