Movens oder »Schaum auf der Welle«? Zum Einfluss des Faktors Persönlichkeit in der Internationalen Politik

Von Hendrik W. Ohnesorge

Die Frage nach dem Einfluss des Faktors Persönlichkeit ist im wahrsten Sinne des Wortes zeitlos: Sie ist uralt und hochaktuell zugleich.[1] Kann das Individuum als Movens – mithin als treibende Kraft – weltpolitischer Gestaltung gelten? Oder ist der Einzelne nur »Schaum auf der Welle« (Georg Büchner) – treibt er lediglich, einem Korken gleich, durch die wechselnden Gezeiten historischer Abläufe – hilflos mal hierhin, mal dorthin geworfen von Kräften, die er nicht zu kontrollieren vermag? Werfen wir zur Beantwortung dieser Fragen zunächst einen Blick zurück.

 

Das Mosaik der Geschichte

Als Johann Wolfgang von Goethe am 13. Mai 1787 im Zuge seiner legendären Italienreise die Ausgrabungsstätte von Pompeji besucht, notiert er zutiefst bewegt: »Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte. Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres. […] Ein herrlicher Platz, des schönen Gedankens wert.«[2]

Tatsächlich hat der Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr. zu einer einmaligen Konservierung der betroffenen Orte am Golf von Neapel geführt. Ihre schrittweise Wiederentdeckung, die bis heute andauert, fördert dabei immer wieder überraschende und faszinierende Ausgrabungsstücke zutage, die vom Leben und vom Sterben ihrer Bewohner künden. Die Ausgräber staunten daher nicht schlecht, als sie im Oktober 1831 auf ein bestens erhaltenes, überaus farbenfrohes Mosaik von Meisterhand stießen, das unter dem Tuffstein des Vulkans im Dornröschenschlaf gelegen und über die Jahrhunderte nichts von seinem Glanz verloren hatte. Das rund sechs Meter breite und drei Meter hohe Bildnis ist zusammengesetzt aus etwa eineinhalb Millionen Steinchen, und es zeigt eine der Entscheidungsschlachten des Makedonenkönigs Alexanders gegen den persischen Großkönig Dareios III.[3]

Betrachtet man das Mosaik, so erblickt man rund dreißig Personen, dazu Pferde und Streitwagen, Lanzen und Schilde, Köcher und Bögen. Im kompositorischen Zentrum erblicken wir, von links heranstürmend und bereits helmlos, Alexander auf seinem Leibross Bukephalas. Rechts der Mitte, mit Kopfbedeckung, die Hand ausgestreckt und den Streitwagen schon zur Flucht gewandt, ist Dareios zu erkennen. Inmitten der mörderischen Schlacht treten die beiden königlichen Hauptakteure klar hervor. Tritt man näher an das Kunstwerk heran, so künden tiefe Stirnfalten und zusammengezogene Augenbrauen von ihren körperlichen Anstrengungen und ihren inneren Gefühlswelten. Andreae schließt seine kurzweilige Studie Das Alexandermosaik, auf welcher die Ausführungen hier beruhen, mit den Worten: »Es ist die angemessene Darstellung eines historischen Ereignisses, das den Lauf der Welt bestimmte.«[4]

Doch bestimmte der Sieg Alexanders tatsächlich »den Lauf der Welt«? Hat, wie das Mosaik uns glauben lässt, Alexander persönlich den Dareios besiegt? Vielen Beobachtern, Zeitgenossen wie Nachgeborenen, jedenfalls gilt der Makedonenkönig, dem die Römer später den Beinnamen »der Große« geben sollten, als archetypischer Weltenveränderer. Für den Althistoriker Hans-Joachim Gehrke steht fest: »Gerade Alexander ist ein gutes, vielleicht das beste Beispiel dafür, daß in der Tat ganz erhebliche Veränderungen von welthistorischer Bedeutung durch das Handeln eines Individuums möglich sind.«[5]

Inspiriert von den Epen Homers, angetrieben von grenzenlosem Ehrgeiz und ausgestattet mit beispielloser Tatkraft, so die gängige Erzählung, hat Alexander vom Rücken seines Pferdes ein Weltreich erobert, das sich bis an die Grenzen der bekannten Welt erstreckte. War also Alexander, im Sinne unserer Eingangsfragen, Movens, war er treibende Kraft der Weltgeschichte? Hatte seine Persönlichkeit Einfluss auf ihren Verlauf? Haben seine Erziehung und seine Visionen, sein Ehrgeiz und sein Machthunger, sein Jähzorn und seine Maßlosigkeit, sein strategisches Geschick und sein Charisma das Antlitz der Welt verändert, in der wir heute leben? Hat Alexander, kurz gesprochen, Geschichte gemacht?

 

Persönlichkeit und Politik: Hintergründe, Entwicklungen und Stimmen

Es sind dies bis heute die Kernfragen jenes weiten Forschungsfeldes, das wir – der angelsächsischen Tradition folgend – »Persönlichkeit und Politik« (»Personality and Politics«) nennen wollen, jener Forschungsrichtung, die sich dem Einfluss des Faktors Persönlichkeit auf weltpolitische Gestaltung widmet. Ausgangspunkt derartiger Forschung ist dabei eine scheinbar simple und dennoch bedeutungsschwere These, die sich zusammenfassen ließe in einem Satz: Personen machen Geschichte bzw. Politik.

Blicken wir gemeinsam auf einige wichtige Wegmarken: Bereits in der Entstehung der Geschichtsschreibung bei den Griechen, mit Herodot und Thukydides, wie auch in ihrem literarischen Vorläufer, dem Epos, ist das Spannungsverhältnis zwischen menschlichem Handeln und göttlicher Vorsehung, zwischen individueller Eigenverantwortung und äußeren Kräften – nennen wir sie nun Glück, Zufall, Schicksal, Gott –, mithin zwischen Persönlichem und Überpersönlichem, angelegt.[6]

In der römischen Geschichtsschreibung gewinnen das Individuum und sein staatstragendes Handeln und weltenveränderndes Wirken innerhalb dieses Spannungsverhältnisses stetig an Bedeutung. Viele der führenden Vertreter römischer Geschichtsschreibung – an ihren Anfängen bereits Cato der Ältere, auf ihrem Höhepunkt Sallust, Caesar und Tacitus, in ihrer Spätzeit Aurelius Victor – erreichen selbst leitende Positionen im Staate. Römische Geschichte und römische Geschichtsschreibung liegen oftmals in einer Hand. Daran anknüpfend, und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zunehmenden Konzentration der politischen und militärischen Macht des Staates in einer Person, verschwimmen mit Prinzipat und später Dominat die Gattungsgrenzen zwischen Historiographie und Biographik.[7] Ganz in diesem Sinne hat Otto Seeck bereits 1898 festgehalten: »In der Kaiserzeit dagegen hing das Schicksal der Welt ganz und gar von dem Charakter eines Einzelnen ab; was er wollte, das konnte er, ohne auf einen andern Widerstand zu stossen [sic], als der in den Grenzen der Menschennatur liegt. Jede Opposition war verstummt, und Alles beugte sich knechtisch den Winken jenes Einen.«[8]

Plutarchs Kaiserviten und seine Parallelbiographien griechischer und römischer Persönlichkeiten können als die vielleicht wirkmächtigsten Beispiele für diese Entwicklung gelten. Sie finden in der Folge weite Verbreitung und prägen über Jahrhunderte die abendländische Geschichtsschreibung. Auch Literaten von Shakespeare bis Schiller schöpfen mit beiden Händen aus ihnen. In Schillers Die Räuber beschwert sich dann auch bekanntermaßen Karl von Moor: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.«[9]

In ebenjene Zeit, an die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, fällt auch das Auftreten eines weiteren archetypischen Weltveränderers – nach Alexander und Caesar der Dritte in diesem illustren Bunde –, der der alten Debatte über individuelle Gestaltungskraft neuen Atem einhaucht: Napoleon Bonaparte.

Der bereits oben zitierte Johann Wolfgang von Goethe war nachhaltig von Auftreten und Wirken des Korsen fasziniert: In Anbetracht der genialischen Schaffens-, wohl aber auch der weltenverschlingenden Zerstörungskraft Napoleons hielt Goethe den Kaiser der Franzosen, dem er im Oktober 1808 in Erfurt von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen sollte, in den Worten von Willy Andreas, für »eine ungeheure Naturgewalt, ein menschgewordenes Erdbeben, eine Erscheinung jenseits von Gut und Böse.«[10] Im Februar 1807, wenige Monate nach der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt, die auch Goethe in Weimar ganz persönlich betroffen hatte, äußert er gegenüber Friedrich Wilhelm Riemer im Gespräch: »Außerordentliche Menschen, wie Napoleon, treten aus der Moralität heraus. Sie wirken zuletzt wie physische Ursachen, wie Feuer und Wasser.«[11] Nicht ohne Grund fällt daher in die Zeit nach Auftreten, Aufstieg und Fall Napoleons die Ausformulierung der sogenannten Great Man Theory.

Thomas Carlyle liefert uns 1841 in seinem On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History den locus classicus für diese Theorie: »Universal History, the history of what man has accomplished in this world, is at bottom the history of the Great Men who have worked here.«[12] Gegen Ende des ersten Kapitels heißt es weiter und vielleicht noch prägnanter: »The History of the world is but the Biography of great men.«[13]

In der Folgezeit sollte diese These heftige Diskussionen auslösen und weite Verbreitung finden – insbesondere im deutschen Sprachraum.[14] Anklänge finden sich, nicht selten gekoppelt an das Postulat der vermeintlichen moralischen Überlegenheit »Großer Gestalten«, in den Werken und Gedankenwelten von Friedrich Nietzsche, später von Gottfried Benn und dem berühmt-berüchtigten George-Kreis.[15] Mit diesen Entwicklungen freilich war auch dem sogenannten Führerkult ein vergifteter Nährboden bereitet, der in der Folgezeit schreckliche Früchte tragen sollte. Hans-Peter Schwarz, der wohl einflussreichste deutschsprachige Vertreter historisch fundierter, personenbezogener Politikforschung, hat in ebendieser Hinsicht zurecht auf das »destruktive Potential« derartiger Gestalten hingewiesen.[16] Schon die oben erwähnte Einsicht Goethes, dass Napoleon »aus der Moralität heraus[trete]«, weist eindrücklich auf diese Gefahr hin.

Gewinnen das Diktum von Goethe und die Warnung von Schwarz – mit Blick auf auftretende Persönlichkeiten und ihre Moralität – heute nicht eine neue Bedeutung und eine neue Dringlichkeit? In letzter Zeit jedenfalls wächst das wissenschaftliche und öffentliche Interesse an der Rolle Einzelner auf der internationalen Bühne merklich, was etwa ein Blick auf jüngste Veröffentlichungen oder Konferenzprogramme verdeutlicht. Doch auch in der praktischen Politik finden wir immer wieder entsprechende Stimmen, die Einzelnen erhebliche politische Gestaltungskraft attestieren. Lassen wir einige dieser Stimmen erklingen.

Henry Kissinger verbindet wie vielleicht kein Zweiter im 20. Jahrhundert die beiden Arenen der politischen Wissenschaft und der praktischen Politik. Auf ebendiese unterschiedlichen Arenen spielt Kissinger in einer vielsagenden Einsicht aus dem Januar 1974 an, die er auf dem Rückweg von einer seiner vielen diplomatischen Reisen in den Nahen Osten einigen mitreisenden Journalisten anvertraut: »As a professor, I tended to think of history as run by impersonal forces. But when you see it in practice, you see the difference personalities make.«[17]  Bei verschiedenen US-Präsidenten finden wir Vergleichbares. In der ihm ganz eigenen Art und Weise formuliert beispielsweise George W. Bush paradigmatisch in einem Interview aus dem Jahr 2004, inmitten des sogenannten War on Terror: »I’m not the historian. I’m the guy making history.«[18]

Indizien für den Einfluss des Faktors Persönlichkeit lassen sich also vielerorts und aller Zeiten finden – und dies nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft, sondern gerade auch bei denen, die es nun wirklich wissen müssten, bei führenden Entscheidungsträgern selbst.

Freilich, und dies soll hier in keiner Weise verschwiegen werden, gab und gibt es auch überaus lautstarke Kritik an derartigen An- und Einsichten. Es ließe sich gar eine Antithese formulieren, die den Einfluss Einzelner auf weltpolitische Gestaltung gänzlich negiert. Sie könnte prägnant lauten: Personen sind irrelevant. Strukturen oder andere, unpersönliche Kräfte sind bestimmend für den Fortgang historischer Abläufe und weltpolitischer Ereignisse. Auch für diese Antithese ließen sich viele Vertreter ins Felde führen, aus der politischen Praxis, aus der Wissenschaft, aus der Literatur. Werfen wir einen Blick auf eine Auswahl, um geäußerte Bedenken zu identifizieren. Beginnen wir mit Georg Büchner. In seinem berühmten Fatalismusbrief schreibt Büchner im Frühjahr 1834 mit Blick auf die Französische Revolution:

»Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.«[19]

Leo Tolstoi schließt sich drei Jahrzehnte später derartig fatalistisch-resignativen Ansichten an, wenn er zu Beginn des zweiten Bandes von Krieg und Frieden – in einer faszinierenden geschichtsphilosophischen Passage – schreibt:

»Der Zar ist Sklave der Geschichte. Die Geschichte, das heißt, das unbewusste, allgemeine Leben der Masse Mensch, nutzt jeden Augenblick im Leben der Zaren für sich als Werkzeug für ihre Ziele. […] Bei den historischen Ereignissen sind die sogenannten großen Persönlichkeiten nur Etiketten, die dem Geschehen den Namen geben und wie Etiketten mit dem Geschehen selbst am wenigsten zu tun haben.«[20]

Wir finden derart kritische Stimmen freilich nicht nur in der Literatur. Sie lassen sich auch bei politischen Entscheidungsträgern ausmachen – und bei führenden noch dazu. Ein Jahr vor Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs gesteht etwa US-Präsident Abraham Lincoln: »I claim not to have controlled events, but confess plainly that events have controlled me.«[21] Geschickt verbunden mit dem Hinweis auf die vermeintliche Unausweichlichkeit der sich vollziehenden Ereignisse – heute würden wir vielleicht von Alternativlosigkeit sprechen – behauptet der Preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck nur fünf Jahre später vor dem Norddeutschen Reichstag:

»Mein Einfluß auf die Ereignisse, die mich getragen haben, wird zwar wesentlich überschätzt, aber doch wird mir gewiß niemand zumuten, Geschichte zu machen; das, meine Herren, könnte ich selbst in Gemeinschaft mit Ihnen nicht, eine Gemeinschaft, in der wir doch so stark sind, daß wir einer Welt in Waffen trotzen könnten, aber die Geschichte können wir nicht machen, sondern nur abwarten, daß sie sich vollzieht.«[22]

Es lassen sich also, ob aus innerer Überzeugung oder aus staatsmännischem Understatement, sei hier einmal dahingestellt, auch bei führenden Entscheidungsträgern Einwände identifizieren, die gegen den maßgeblichen Einfluss des Faktors Persönlichkeit sprechen.

Abschließend dürfen an dieser Stelle auch Bertolt Brechts berühmte »Fragen eines lesenden Arbeiters« nicht fehlen. »Wer baute das siebentorige Theben? / In den Büchern stehen die Namen von Königen. / Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? / […] Der junge Alexander eroberte Indien. / Er allein? / Cäsar schlug die Gallier. / Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?«[23]

Was also bleibt festzuhalten aus dem bislang Gesagten? Während mancher Geschichte in erster Linie, ja gar ausschließlich, als das Wirken »Großer Gestalten« betrachtet, weisen andere diese Ansicht vehement zurück, sprechen Einzelnen teilweise gar jede individuelle Gestaltungskraft ab. Im Zentrum der Kritik steht dabei nicht selten die Frage nach dem Zusammenspiel zwischen Umfeld und Person. Schon Carlyles Zeitgenosse, der englische Universalgelehrte Herbert Spencer, hatte jenes Zusammenspiel betont.[24] Der trinidadische Historiker C. L. R. James formuliert es in The Black Jacobins, seiner berühmten Geschichte der Haitischen Revolution von 1791 bis 1804, später so: »Great men make history, but only such history as it is possible for them to make. Their freedom of achievement is limited by the necessities of their environment.«[25]

Der Methode der Hegel’schen Dialektik folgend, ließe sich daher eine Synthese hinsichtlich des Einflusses des Faktors Persönlichkeit in der Politik wagen. Prägnant könnte diese lauten: Personen spielen eine Rolle, wobei Strukturen und Umfeld die Handlungsoptionen vorgeben, aus denen Entscheidungsträger auf Basis ihrer Persönlichkeit auswählen.

 

Der personenbezogene Ansatz der Politischen Wissenschaft

Diese Synthese soll uns hier als Ausgangspunkt dienen, wenn wir nun systematisch nach den Einflussmöglichkeiten von führenden Entscheidungsträgern in der internationalen Politik fragen. Wir wenden uns damit, nach den geistesgeschichtlich-geschichtsphilosophischen Vorarbeiten, dem personenbezogenen Ansatz der Politischen Wissenschaft im engeren Sinne zu.

Jener Ansatz, dies sei vorab klargestellt, liefert keine Apologie der »Great Man Theory«. Er fragt vielmehr ergebnisoffen nach dem Einfluss einzelner Entscheidungsträger im politischen Prozess, berücksichtigt sie folglich als einen Faktor unter vielen. In diesem Sinne hat Xuewu Gu zurecht darauf hingewiesen, dass die personenbezogene Forschung als einer von insgesamt fünf systematischen Zugängen zu politischen Untersuchungsgegenständen gelten kann.[26] Der personenbezogene Ansatz, um den es uns hier gehen soll, basiert dabei auf einigen konzeptionellen Grundannahmen, liefert Vorschläge einer Systematisierung und betrifft schließlich methodische Fragen. Beginnen wir mit den zentralen Grundannahmen: Erstens, politische Entscheidungsträger beeinflussen politische Prozess und Ereignisse.[27] Sie sind, mit Christian Hacke gesprochen, keine »Politikautomaten«[28]. Nein, vielmehr macht es sehr wohl einen Unterschied, welche Person sich in einer bestimmten Situation in einem bestimmten Amt befindet und bestimmte Entscheidungen zu treffen hat. Folglich spielen Individuen eine Rolle in der Gestaltung internationaler Politik und verdienen daher auch Beachtung in ihrer wissenschaftlichen Analyse. Zweitens, und daran anschließend, bestimmen die Persönlichkeitsmerkmale von Entscheidungsträgern ihre jeweilige Entscheidungsfindung.[29] Daraus folgt für die Wissenschaft, dass Persönlichkeitsmerkmale – Aspekte wie Charakter, Sozialisation, Weltanschauungen, Wissensstruktur etc. – von politischem Führungspersonal untersucht werden müssen, um politische Prozesse und Ereignisse zu verstehen und zu erklären. Wie aber lässt sich nun, aufbauend auf diesen beiden Grundannahmen, eine solche personenbezogene Untersuchung systematisieren?

 

Einflussgrößen des persönlichen Einflusses

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Fred I. Greenstein, jahrzehntlange die wohl weltweit führende Stimme im Forschungsfeld »Persönlichkeit und Politik«, hat in diesem Zusammenhang eine hilfreiche Parabel mit insgesamt drei Einflussgrößen entwickelt. Ebenso wie auf dem Pooltisch, so Greenstein, die Position der weißen Spielkugel, die Konstellation der übrigen Kugeln und die Fähigkeit des jeweiligen Spielers darüber bestimmen, ob das Spiel erfolgreich gestaltet werden kann, so sind in Bezug auf politische Entscheidungsträger und den Grad ihrer persönlichen Einflussmöglichkeiten ihre Position im politischen System, das Umfeld, mit dem sie sich konfrontiert sehen, und ihre politischen Fähigkeiten von Bedeutung.[30]

Schauen wir uns diese Parabel einmal genauer an. Im Sinne der ersten Einflussgröße spielt zunächst, analog zur Position der weißen Spielkugel auf dem Pooltisch, das jeweils ausgeübte politische Amt eine Rolle. Ist dieses, durch Verfassung oder durch politische Praxis, mit erheblichen Kompetenzen ausgestattet, nehmen persönliche Einflussmöglichkeiten zu. Handelt es sich zudem um einen regional oder international einflussreichen Staat, so können Entscheidungen Einzelner gar erhebliche weltpolitische Gestaltungskraft entfalten. Mit Blick auf absolutistische Regierungssysteme der Vergangenheit lässt sich dies schnell illustrieren: Zwar hat der Sonnenkönig, Frankreichs Ludwig XIV., das paradigmatische »L’état, c’est moi!« wohl nie in dieser Form ausgesprochen, doch kann es als der vielleicht deutlichste Ausdruck absolutistischen Selbstverständnisses in ebendiesem Sinne gelten. In ihm bündelt sich das Potenzial, dass Wohl und Wehe eines ganzen Staates, ja eines ganzen Kontinents, vom Handeln Einzelner abhängen. Von ähnlichen Phänomenen war in Bezug auf das Rom der Kaiserzeit bereits die Rede. Henry Kissinger hat in seiner bemerkenswerten Studie On Diplomacy aus dem Jahr 1994 für das zaristische Russland des frühen 19. Jahrhunderts ein weiteres Exempel geliefert:

»In Russia, everything depended on the whim of the tsar. It was entirely possible for Russian foreign policy to veer from liberalism to conservativism depending on the mood of the incumbent tsar – as indeed it did under the reigning Tsar Alexander I.«[31]

Gelten die hier angeführten Beispiele für monarchische Systeme der Vergangenheit – vom imperialen Rom über das absolutistische Frankreich bis hin zum zaristischen Russland –, so kann selbst heute und in demokratisch verfassten Staaten kaum verneint werden, dass die Persönlichkeit von Staats- und Regierungschefs eine Rolle für deren politisches Auftreten spielt, zumal auf internationaler Bühne. Im Sinne der ersten Variabel der Greenstein’schen Parabel, die sich auf die Machtbefugnisse des jeweiligen politischen Amts bezieht, gilt dies wohl in besonderem Maße für präsidentielle Systeme. Ein Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika hilft hier weiter: Nach Verfassung und fortlaufender politischer Gewohnheit ist das Präsidialamt mit erheblichen Kompetenzen ausgestattet. Bereits vor Jahrzehnten prägte Arthur M. Schlesinger Jr. daher den Begriff einer »Imperial Presidency«[32], eine Bezeichnung, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen sowie eines maßgeblichen Urteils des Supreme Court über präsidentielle Immunität vom 1. Juli 2024 erneut heftig diskutiert wird.[33] Mit einem derartigem Machtzuwachs des Amtes, so die Annahme, steigen auch die persönlichen Einflussmöglichkeiten während seiner Ausübung. Folglich hat Schlesinger die US-Präsidentschaft ganz zutreffend als „peculiarly personal institution“[34] bezeichnet, mithin als ein Amt, das entscheidend geprägt ist von der Person, die es ausfüllt. Wer wollte dies heute – kurz nach Beginn der zweiten Präsidentschaft Donald Trumps – ernsthaft bestreiten?

Doch zurück zur Pool-Parabel von Fred I. Greenstein. Es ist, folgen wir ihr weiter, nicht nur die Position des weißen Spielballs beziehungsweise analog dazu jene des politischen Entscheidungsträgers, die Aufschluss gibt über den Grad der individueller Einflussmöglichkeiten. Auch die jeweilige politische Situation – analog zur Konstellation der Kugeln auf dem Pooltisch – hat Auswirkungen auf den persönlichen Gestaltungsspielraum. Dabei sind es im politischen Prozess insbesondere Zeiten der Krise, der Unsicherheit oder des Übergangs, die ein hohes Maß individuellen Einflusses versprechen.[35]

Hans-Peter Schwarz betont in einer bemerkenswerten Studie aus dem Jahr 1985 in diesem Sinne,

»daß die personenbezogene Historiographie in erster Linie dort fruchtbar wird, wo krisenhafte Abläufe darzustellen sind: Systemkrisen gleich derjenigen der Weimarer Republik, große Umorientierungen wie etwa die Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 oder deren Ende im Herbst 1982.«[36]

Mit Blick auf unsere heutige Zeit, in der nicht selten Analogien gezogen werden zu Weimar und jüngst – im Zuge des Zusammenbruchs der Ampel-Koalition im November 2024 – auch zu 1982, und die geprägt ist von multiplen Krisen und zahlreichen Herausforderungen, kann folglich der Faktor Persönlichkeit in besonderem Maße zum Tragen kommen.

Damit zur dritten Variable in der Pool-Parabel nach Greenstein: Ihr zufolge sind schließlich Fähigkeit und Geschick von Bedeutung. So wie sich ein talentierter und erfahrener Spieler zutrauen kann, kompliziertere Spielzüge erfolgreich zu meistern, so kann auch der kompetente Politiker, die günstige Gelegenheit erkennend, größeren persönlichen Einfluss ausüben und womöglich gar, unter den richtigen Rahmenbedingungen, einer ganzen Epoche seinen Stempel aufdrücken. In diesem Sinne formuliert David Patrick Houghton: »Structure is not everything, and it is of course still up to leaders to seize the political moment that open windows create.«[37]

Es bedurfte beispielsweise auch des politischen Geschicks und des historischen Gespürs Helmut Kohls, um während der sich überschlagenden Ereignisse im Zeitenwendenjahr 1989/90 bestehende Optionen für ein zügig wiedervereinigtes Deutschland überhaupt zu erkennen und dieses Ziel in der Folge auch vehement und erfolgreich zu verfolgen. Weniger geschickte Entscheidungsträger hätten die Gunst der Stunde – das, was die Griechen kairos nannten – womöglich nicht erkannt. Der fähige Politiker allerdings, so könnte man in Abwandlung des bekannten Bismarck-Wortes sagen, klammert sich im rechten Augenblick geschickt und selbstbewusst an den flüchtig vorbeiwehenden Mantel der Geschichte.

Zusammengenommen liefert uns die Greenstein’sche Pool-Parabel mit ihren drei Variablen – Position, Konstellation und Kompetenz – überaus aufschlussreiche und zudem systematische Hinweise bezüglich der Gestaltungsmöglichkeiten des Individuums im politischen Entscheidungsprozess.

Indes ließe sich noch eine vierte Variable hinzufügen: So kann internationale Politik – genau wie eine Partie Poolbillard – zwar aus der individuellen Perspektive des jeweils auftretenden Entscheidungsträgers betrachtet werden, doch sind neben ihm meist weitere Akteure am Werk, die die Situation mit ihren eigenen Entscheidungen und ihren eigenen Persönlichkeitsmerkmalen beeinflussen und prägen.[38] Internationale Politik, so ließe sich sagen, ist kein Monolog; meist ist die Bühne voll von Spielern, die gemeinsam eine Szene ausgestalten. Dies gilt gleichermaßen für Innen- wie für Außenkonstellationen, also etwa im Inneren für Beraterzirkel, Küchenkabinette oder Koalitionspartner sowie im Äußeren für Amtsträger, Entscheidungspersonal oder Diplomaten anderer Staaten.

Daher sollte der Faktor der persönlichen Beziehungen politischer Entscheidungsträger – gewissermaßen ihre Kompatibilität – besondere Beachtung finden, gerade im internationalen Kontext.[39] Konkrete historische Fallbeispiele ließen sich auch in dieser Hinsicht auf- und ausführen: In einem Telegramm vom 24. Oktober 1962, inmitten der Kubakrise, schreibt etwa der sowjetische Botschafter in den Vereinigten Staaten, Anatoli Dobrynin, an das Außenministerium in Moskau: »On the relationships between the heads of our governments, on which history has placed special responsibility for the fate of the world, a lot really does depend; in particular, whether there will be peace or war.«[40]

Weitere Belege, die die Bedeutung dieser vierten vorgeschlagenen Variable – das heißt, der persönlichen Beziehungen und Kompatibilitäten – unterstreichen, lassen sich viele finden, gerade auch im transatlantischen Verhältnis: von den belasteten persönlichen Beziehungen zwischen Helmut Schmidt und dem kürzlich verstorbenen Jimmy Carter bis hin zum anfangs kühlen und zuletzt ungeahnt herzlichen Verhältnis zwischen Angela Merkel und Barack Obama. In Bezug auf das Ende des Kalten Krieges, von dem bereits oben die Rede war, waren es schließlich auch die engen und vertrauensvollen Beziehungen zwischen Helmut Kohl und George H. W. Bush, die eine schnelle Wiedervereinigung erst ermöglichten. Heute, und in den kommenden Jahren, könnten wir uns aus personenbezogener Perspektive entsprechend fragen, wie es etwa um die Komptabilität von führenden Politikern mit US-Präsident Donald Trump bestellt ist: von Wladimir Putin und Xi Jinping, über Giorgia Meloni und Emmanuel Macron, bis hin zu – vielleicht! – in Kürze Friedrich Merz.

 

Methodische Zugänge: Qualitative Studien und kontrafaktische Überlegungen

Akzeptiert man die skizzierten Grundannahmen des personenbezogenen Ansatzes bezüglich der individuellen Einflussnahme politischer Entscheidungsträger unter gewissen Rahmenbedingungen, so stellt sich im nächsten Schritt die Frage, wie sich methodisch saubere Aussagen über den Einfluss des Faktors Persönlichkeit überhaupt treffen ließen.

In Wallensteins Tod lesen wir folgenden Satz, gesprochen vom Titelhelden selbst: »Hab ich des Menschen Kern erst untersucht,/ So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.«[41] Wie aber können wir »des Menschen Kern« – also die Persönlichkeit eines Entscheidungsträgers – überhaupt fassen, um sodann Rückschlüsse ziehen zu können auf »sein Wollen und sein Handeln«?

Für klinische psychologische Untersuchungen jedenfalls stehen uns führende politische Entscheidungsträger nur in den allerseltensten Fällen zur Verfügung. Zwar gibt es immer wieder Studien aus der Feder von Psychologen, etwa zu Persönlichkeitsmerkmalen der US-Präsidenten, doch beruhen auch diese nicht auf klinischen Tests, sondern meist auf Sekundäranalysen und Literaturstudium.[42] Zudem überschritte ein psychologisch-medizinischer Zugang in der Regel schlicht und einfach die Fähigkeiten des Politikwissenschaftlers. Wir müssen uns daher in erster Linie mit qualitativen Studien begnügen. Mit dem Wälzen von Literatur und dem Führen von Interviews, mit der Analyse von Schriftstücken und dem Studium von Akten, mit der hermeneutischen Betrachtung persönlicher Werdegänge und politischer Entscheidungen. Für dieses mühsame Unterfangen ließen sich eine Reihe von forschungsleitenden Fragen formulieren, um den qualitativ-hermeneutischen Zugang zu systematisieren und so ein belastbares Persönlichkeitsbild politischer Entscheidungsträger und ihres individuellen Einflusses zeichnen zu können – vielleicht gar ein vergleichendes. Wir wollen hier nicht auf alle Aspekte eines solchen Vorgehens eingehen, die wir in einer »Fragenliste zur Analyse politischer Entscheidungsträger« vor ein paar Jahren einmal vorgeschlagen haben.[43] Eine qualitativ-hermeneutische Untersuchung Donald Trumps entlang vorgeschlagener Kategorien – Familie, Motivation, Vorbilder, Weltsicht, Wissensstruktur usw. – könnte uns allerlei Aufschluss geben über seine Persönlichkeit – also, mit Schiller, über seinen »Kern« – und damit auch über »sein Wollen und sein Handeln« in den kommenden vier Jahren.

Blicken wir zum Abschluss etwas ausführlicher auf ein weiteres methodisches Hilfsmittel, das uns ebenfalls sehr weiterhilft: Wenn also im Sinne des personenbezogenen Ansatzes politische Entscheidungsträger in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt werden, mit ihren jeweiligen Charaktermerkmalen, Zielsetzungen usw., so stellt sich schnell die Frage, welche Konsequenzen sich aus der Abwesenheit gewisser Personen ergäben. Wären bestimmte Figuren also, um zum Bild zurückzukehren, nicht auf der Bühne erschienen, hätte sich dann das Schauspiel unverändert vollziehen können?

Es ist dies die berühmt-berüchtigte Frage des »Was wäre, wenn?«. Der Althistoriker Alexander Demandt beschäftigt sich mit ihr unter dem Titel Es hätte auch anders kommen können. Er untersucht, so der Untertitel seines im Jahr 2010 erschienen Werkes, »Wendepunkte deutscher Geschichte« und entwickelt und diskutiert in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe von Alternativszenarien. Bis in die Neuzeit hinein diskutiert Demandt derartige Fragen, wenn er etwa in kontrafaktischer Manier die Auswirkungen eines erfolgreichen Attentats auf Adolf Hitler erörtert.[44] Demandt bietet so in überaus kurzweiliger Manier reichlich Stoff zum Nachdenken über den Einfluss des Faktors Persönlichkeit. Denn trotz aller Bedenken und Fallstricke, die einem solchen Vorgehen ohne Frage innewohnen, zeigen kontrafaktische Gedankenspiele schnell ihre grundsätzliche Daseinsberechtigung – gerade, wenn wir dabei das Leben und Wirken großer welthistorischer Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellen.

Denn können wir tatsächlich davon ausgehen, dass unsere Welt heute die gleiche wäre, wenn sich der junge Alexander bei dem Versuch, den widerborstigen Hengst Bukephalas zu zähmen, den Hals gebrochen hätte? Wenn Julius Caesar von den Piraten auf Farmakonisi nicht gegen Lösegeldzahlung freigelassen worden wäre? Wenn Elisabeth I. im Rahmen der Wyatt-Verschwörung mit Schlimmerem als nur der Gefängnisstrafe bedacht worden wäre? Wenn Winston Churchill auf der New Yorker Fifth Avenue nicht nur angefahren worden wäre? Die Liste derartiger Fälle ließe sich endlos fortschreiben.[45] Und beinahe ebenso lang ist die Liste derer, die entsprechende Überlegungen angestellt haben.

Als ein besonders überzeugendes Beispiel kann Henry A. Turners Geißel des Jahrhunderts: Hitler und seine Hinterlassenschaft aus dem Jahr 1989 gelten. Turner beschäftigt sich darin mit der kontrafaktischen Fragestellung, was es wohl für den Fortgang der deutschen, europäischen und letztlich Weltgeschichte bedeutet hätte, wenn Adolf Hitler, noch als Parteivorsitzender der NSDAP, Anfang der 1930er Jahre bei einem Autounfall ums Leben gekommen wäre.[46] Es ist dies eine faszinierende Studie bis heute, die erheblichen Erklärungsgehalt hinsichtlich des individuellen Einflusses politischer Gestalten liefert.

Haben also derartige kontrafaktische Überlegungen ihre grundsätzliche Berechtigung, noch dazu aus personenbezogener Perspektive, so bergen sie zweifellos auch eine ganze Reihe von Risiken: Dies gilt einerseits für die Gefahr allzu langer Argumentationsketten in der kontrafaktischen Analyse, durch die die Anzahl denkbarer Alternativszenarien exponentiell ansteigt.[47] Damit verbunden ist die Gefahr der im Grundsatz fehlenden Beweisbarkeit kontrafaktischer Alternativszenarien. Denn wie ließen sich derartige Überlegungen jemals wirklich wissenschaftlich einwandfrei verifizierten oder falsifizieren? Allerdings ist diese Frage auch in anderen Bereichen nicht so einfach zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Zudem besteht schließlich die Gefahr, dass scheinbar Trivialem in der kontrafaktischen Rückschau zu viel Gewicht beigemessen wird. Das berühmte Bonmot des französischen Philosophen und Mathematikers Blaise Pascal gehört in diesen Kontext: »Die Nase der Kleopatra: wäre sie kürzer gewesen, das Gesicht der ganzen Erde würde verändert sein.«[48] Tatsächlich ist Pascals spitzzüngige Vermutung fast unweigerlich zu finden, wenn es gilt, kontrafaktische Geschichtsschreibung zu kritisieren, ja zu diskreditieren. Und dennoch können wir uns wohl mit Recht fragen: Ist es denn wirklich zu weit hergeholt, zu behaupten, dass die Nase der Kleopatra zumindest dazu beigetragen hat, dass sich die mächtigsten Männer Roms Hals über Kopf in die ptolemäische Pharaonin verliebten? Immerhin waren dies niemand geringeres als Julius Caesar und Marcus Antonius – und ganz unzweifelhaft erwuchsen auch aus den berühmten Liebesgeschichten ganz erhebliche politische Konsequenzen.

Festzuhalten also bleibt: Das Mittel der kontrafaktischen Szenarioanalyse –beruhend auf präzisier Quellenarbeit und eingedenk bestehender Gefahren – kann ein aufschlussreiches methodisches Hilfsmittel sein, um personenbezogene Forschung zu betreiben. Ein Blick auf ein weiteres historisches Beispiel, das bereits Erwähnung fand, vermag dies zu verdeutlichen: Studiert man nämlich die Dokumente und Protokolle der Entscheidungsfindung während der Kuba-Krise, so finden sich allerlei handfeste Belege dafür, dass andere Persönlichkeiten, die im Oktober 1962 ohne viel Phantasie an der Stelle Kennedys hätten stehen können, andere Handlungsoptionen gewählt hätten, um auf die Entdeckung sowjetischer Mittelstreckenraketen zu reagieren.[49] Die wohl erheblichen Auswirkungen auf die Frage von Krieg oder Frieden – ja auf das Überleben der Zivilisation selbst – sind kaum von der Hand zu weisen.

 

Zusammenfassung und Forschungsagenda

Was also bleibt – abschließend und ausblickend – vom personenbezogenen Ansatz übrig? Welche Rolle kann dem Faktor Persönlichkeit in der internationalen Politik beigemessen werden? Ist der Einzelne – zurückkehrend zum eingangs aufgestellten Gegensatzpaar – nun Movens weltpolitischer Gestaltung oder nicht mehr als bloßer »Schaum auf der Welle«?

Zunächst sollten wir uns bei der Erwiderung dieser Fragen lösen von allzu apodiktischen Annahmen – in die eine oder andere Richtung. So ist die Carlyle’sche These vom exklusiv-formativen Einfluss Einzelner auf historische Abläufe und Ereignisse, der zufolge Geschichte lediglich als Biographie »Großer Gestalten« zu verstehen sei, in ihrer Reinform kaum haltbar. Doch auch die Antithese, nach der der Faktor Persönlichkeit gänzlich zu vernachlässigen, der Einzelne also bedeutungslos und mithin austauschbar sei, ist nicht überzeugend. Zu häufig und zu deutlich lässt sich der Einfluss des Faktors Persönlichkeit im politischen Prozess empirisch nachweisen, im Großen wie im Kleinen. Vielmehr hilft uns daher, ganz im Sinne der dialektischen Methode Hegels, eine Synthese aus beiden Ansichten: Personen spielen eine Rolle, aber stets in Verbindung mit ihrem Umfeld, welches – denken wir an die Poolbillard-Parabel zurück – mal günstiger, mal weniger günstig ausfallen kann, was die Möglichkeit individuellen Einflusses angeht.

Aus diesem Grunde, und aufbauend auf dem hier Erarbeiten, sei daher vorgeschlagen, der klassischen Trias der Politik – gemeinhin zusammengesetzt aus den drei Dimensionen policy, politics und polity – in Zukunft eine vierte Einflussgröße an die Seite stellen: den politician. Denn ihm kommt, so meine Überzeugung, ein maßgeblicher und noch immer vernachlässigter Einfluss zu, insbesondere in den internationalen Beziehungen.

Wer möchte dies, etwa mit Blick auf den wiederamtierenden US-Präsidenten Donald Trump und sein Auftreten, heute ernsthaft bezweifeln? Um Trumps Politik zu verstehen, gar Prognosen anzustellen, müssen wir auch und vielleicht gerade auf seine Persönlichkeit blicken. Seine zweite Amtszeit dürfte, mehr noch als die erste, unter dem Banner »Trump First« stehen – und der Faktor Persönlichkeit wird daher von maßgeblicher Bedeutung sein. Dies gilt im Übrigen nicht nur aus wissenschaftlich-theoretischer, sondern gerade auch aus politisch-praktischer Perspektive: Ein wirkliches Verständnis von und ein erfolgreicher Umgang mit den USA – noch immer unser engster Partner in einer See von Plagen – kann in den nächsten Jahren nur dann erfolgreich gelingen, wenn politische Entscheidungsträger den Faktor Persönlichkeit in ihre Überlegungen, Entscheidungen und Strategien einbeziehen.

Um in diesem anspruchsvollen Unterfangen den personenbezogenen Ansatz weiter zu schärfen, auch im Sinne politischer Szenarioanalyse und Beratungstätigkeit, sind empirische Untersuchungen unabdingbar. Nur durch sie lassen sich, womöglich unter Zuhilfenahme kontrafaktischer Überlegungen, konzeptionell fundierte, empirisch reichhaltige und methodisch saubere Aussagen treffen, was nachweisbaren individuellen Gestaltungsspielraum betrifft. Freilich ist der personenbezogene Ansatz nicht frei von Fallstricken – ganz im Gegenteil. Die Schwierigkeit, ein belastbares Persönlichkeitsbild von uns meist nur mittelbar zugänglichen Entscheidungsträgern zu zeichnen, wurde erwähnt. Fragen von Typologisierung und Prognosefähigkeit bleiben ebenfalls noch immer in weiten Teilen unbeantwortet. Zusammengenommen machen ebendiese Komplexitäten die Anwendung des personenbezogenen Ansatzes zu einer wahren Sisyphusarbeit. Doch spätestens seit Albert Camus wissen wir, dass eine solche nicht notwendigerweise als Strafe verstanden werden muss, sondern Belohnung bereithalten, ja Erfüllung bringen kann.

Der unbekannte Künstler des eingangs erwähnten Alexander-Mosaiks von Pompeji musste eineinhalb Millionen Mosaiksteinchen heranschaffen und anordnen, um die bildliche Darstellung einer bedeutsamen Weltstunde in beschwerlicher Arbeit zu komplettieren. Genau wie für den Mosaizisten vor mehr als zwanzig Jahrhunderten, so bleibt es Aufgabe des Wissenschaftlers unserer und zukünftiger Zeiten – herausfordernd und erfüllend zugleich –, das vielfarbige und facettenreiche Mosaik historischer Ereignisse und weltpolitischer Prozesse zu legen. Nur wenn dabei auch das wichtige Puzzleteil der Persönlichkeit Berücksichtigung findet, kann in steter Forschungsarbeit ein vollständiges Bild entstehen – dies sollte uns Ansporn sein für künftige Arbeiten.

[1] Der Beitrag basiert auf der Antrittsvorlesung des Autors, gehalten zum Abschluss des ordnungsgemäßen Habilitationsverfahrens an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn am 29. Januar 2025. Sie beruht in Teilen auf Vorarbeiten des Autors in Forschung und Lehre der vergangenen Jahre, insbesondere Hendrik W. Ohnesorge, Gestalten und Gestalter der Weltgeschichte. Zur Rolle des Individuums in der Geschichtsschreibung, in: Ders. & Xuewu Gu (Hg.), Der Faktor Persönlichkeit in der internationalen Politik, Wiesbaden 2021, S. 19–44 sowie ders. & Xuewu Gu, Persönlichkeit und weltpolitische Gestaltung. Annahmen und Forschungsagenda des personenbezogenen Ansatzes, in: Dies. (Hg.), Der Faktor Persönlichkeit in der internationalen Politik, Wiesbaden 2021, S. 3–15 und dies., Wer macht Politik? Überlegungen zum Einfluss politischer Persönlichkeiten auf weltpolitische Gestaltung, in: Dies. (Hg.), Politische Persönlichkeiten und ihre weltpolitische Gestaltung. Analysen in Vergangenheit und Gegenwart, Wiesbaden 2017, S. 3–14.[2] Johann Wolfgang von Goethe, »Italienische Reise. Auch ich in Arkadien!«, in: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 11, Autobiographische Schriften III, München 2000 [1816/17], S. 7–349, hier S. 204.

[3] Bernard Andreae, Das Alexandermosaik, Stuttgart 1967, S. 28.

[4] Ebd., S. 31.

[5] Hans-Joachim Gehrke, Alexander der Große, München 2013, S. 99.

[6] Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Herodot – Thukydides, Frankfurt a. M. 1982, S. 12–25 und S. 380 f.

[7] Andreas Mehl, Römische Geschichtsschreibung. Grundlagen und Entwicklungen, Stuttgart 2001, S. 142 f.

[8] Otto Seeck, Die Entwicklung der antiken Geschichtsschreibung und andere populäre Schriften, Berlin 1898, S. 87.

[9] Friedrich Schiller, Die Räuber, in: Albert Meier (Hg.), Sämtliche Werke. Bd. I, München 2004 [1781], S. 491–618, hier S. 502.

[10] Zitiert nach Gerhard Müller, „… eine wunderbare Aussicht zur Vereinigung deutscher und französischer Vorstellungsarten“. Goethe und Weimar im Rheinbund, in: Hellmut Seemann (Hg.), Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents, Göttingen 2008, S. 256–278, hier S. 261.

[11] Zitiert nach Eckart Kleßmann, Goethe und seine lieben Deutschen. Ansichten einer schwierigen Beziehung, Frankfurt a. M. 2010, S. 133.

[12] Thomas Carlyle, On Heroes, Hero-Worship, & the Heroic in History, London 1841, S. 1.

[13] Ebd. S. 47.

[14] Michael Gamper, Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas, Göttingen 2016, S. 297–302.

[15] Vgl. Hans-Peter Schwarz, Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, Berlin 1998, S. 54.

[16] Ebd. S. 56.

[17] Zitiert nach Walter Isaacson, Kissinger: A Biography, New York 1992, S. 13.

[18] Nancy Gibbs & John F. Dickerson, George Bush: I’ve Gained Strength, in: TIME Magazine, 06.09.2004, tinyurl.com/indes251c.

[19] Georg Büchner, An die Braut, in: Sämtliche Werke und Briefe, Leipzig 1922, S. 529–531, hier S. 530.

[20] Lew Tolstoi, Krieg und Frieden. Band II, München 2013 [1869], S. 11–13.

[21] Zitiert nach David Herbert Donald, Lincoln, New York 1995, S. 15.

[22] Otto von Bismarck, Ueber verantwortliche Bundesminister, in: Wilhelm Böhm (Hg.), Fürst Bismarck als Redner. Vollständige Sammlung der parlamentarischen Reden Bismarcks seit dem Jahre 1847, Berlin & Stuttgart 1886, S. 210–233, hier S. 229 f.

[23] Bertolt Brecht, Fragen eines lesenden Arbeiters, in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Bd. 3: Gedichte I, Frankfurt a. M. 2005, S. 293.

[24] Vgl. Herbert Spencer, The Study of Sociology, London 1873, S. 35.

[25] C. L. R. James, The Black Jacobins: Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Revolution, London 1938, S. x.

[26] Neben der Struktur-, Prozess-, System- und institutionellen Analyse; vgl. Xuewu Gu, Die Bedeutung der personenbezogenen Politikforschung für die Politikwissenschaft, in: Tilman Mayer & Volker Kronenberg, Streitbar für die Demokratie: „Bonner Perspektiven“ der Politischen Wissenschaft und Zeitgeschichte 1959–2009, Wiesbaden 2009, S. 185–192, hier S. 190.

[27] Vgl. Paul ’t Hart, Political Psychology, in: David Marsh & Gerry Stoker (Hg.), Theory and Methods in Political Science, London 2010, S. 99–113, hier S. 102.

[28] Christian Hacke, Hans-Peter Schwarz, die deutsche Frage und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter R. Weilemann u. a. (Hg.), Macht und Zeitkritik, Paderborn 1999, S. 189–208, hier S. 208.

[29] Vgl. ’t Hart, S. 104.

[30] Vgl. Fred I. Greenstein, The Impact of Personality on Politics. An Attempt to Clear Away Underbrush, in: The American Political Science Review, H. 4/1967, S. 629–641, hier S. 634 f. sowie ders., Can Personality and Politics be Studied Systematically, in: Political Psychology, H. 1/1992, S. 102–128, hier S. 117.

[31] Henry Kissinger, On Diplomacy, New York 1994, S. 75.

[32] Arthur Schlesinger, The Imperial Presidency, Boston & New Work 1973.

[33] Vgl. Sarah Binder u. a., The Imperial Presidency Unleashed. How the Supreme Court Eliminated the Last Remaining Checks on Executive Power, in: Foreign Affairs, 18.07.2024, tinyurl.com/indes251c1.

[34] Schlesinger, S. 212.

[35] Vgl. ’t Hart, S. 102.

[36] Hans-Peter Schwarz, Die Bedeutung der Persönlichkeit in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, in: Rudolf Hrbek (Hg.), Personen und Institutionen in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Kehl u. a. 1985, S. 7–19, hier S. 7.

[37] David Patrick Houghton, George W. Bush, Iran and the Squandering of America’s Soft Power, in: David B. MacDonald u. a. (Hg.), The Bush Leadership, the Power of Ideas, and the War on Terror, Farnham 2012, S. 75–89, hier S. 77.

[38] Vgl. Ohnesorge & Gu 2021, S. 9.

[39] Vgl. Hendrik W. Ohnesorge, Soft Power. The Forces of Attraction in International Relations, Cham 2020, S. 133 f.

[40] Zitiert nach Michelle Getchell, The Cuban Missile Crisis and the Cold War. A Short History with Documents, Indianapolis & Cambridge 2018, S. 149.

[41] Friedrich Schiller, Wallensteins Tod. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Albert Meier (Hg.), Sämtliche Werke. Bd. II, Dramen 2, München 2004, S. 407–547, hier S. 440.

[42] Vgl. etwa Steven J. Rubenzer & Thomas R. Faschingbauer, Personality, Character and Leadership in the White House. Psychologists Assess the Presidents, Dulles 2004.

[43] Gu & Ohnesorge 2017, S. 10 f.

[44] Vgl. Alexander Demandt, Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte, Berlin 2010.

[45] Vgl. Ohnesorge 2021, S. 35 f.

[46] Vgl. Henry A. Turner, Geißel des Jahrhunderts. Hitler und seine Hinterlassenschaft, Berlin 1989, S. 8 f.

[47] Vgl. Sidney Hook, The Hero in History. A Study in Limitation and Possibility, New York 1943, S. 131 f.

[48] Blaise Pascal, Gedanken, Stuttgart 1956 [1670], S. 55.

[49] Vgl. Ernest R. May & Philip D. Zelikow (Hg.), The Kennedy Tapes. Inside the White House During the Cuban Missile Crisis, New York 2002.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2025 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2025