Kindheit – Eine Erfindung der frühen Neuzeit? Ein Irrtum und seine Rezeptionsgeschichte

Von Christiane Richard-Elsner

Im sicheren Mainstream befand sich die Redaktion dieser Zeitschrift, als sie im Call for papers für diese Heftausgabe fragte: »Was beispielsweise lässt sich historisch über die ›Erfindung der Kindheit‹ sagen, seit wann und warum wurden Kinder nicht länger als ›kleine Erwachsene‹ betrachtet?«[1] Mit der griffigen Sentenz von der »Erfindung der Kindheit« wird seit Jahrzehnten die Geschichte der Kindheit[2] erzählt, wonach Kinder im Mittelalter als kleine Erwachsene betrachtet worden seien und sich erst im Verlauf weiterer Jahrhunderte ein Sinn für Kindheit eingestellt habe. Dieses historische Phänomen sei von Philippe Ariès entdeckt worden, der in der Tat mit seinem erstmals 1960 als Lenfant et la vie familiale sous lancien régime[3] veröffentlichten Werk nicht nur Fachkolleg:innen nachhaltig beeindruckte. Er löste eine Fülle von Studien zur Geschichte der Kindheit im Mittelalter aus, die jedoch einige seiner zentralen Aussagen nicht bestätigten. So urteilt etwa der Mittelalterhistoriker Nicholas Orme 2001 hart: »Ariès’s views were mistaken: not simply in details but in substance. It is time to lay them to rest.«[4]

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[1] INDES-Redaktion, Kindheit, in: H/Soz/Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften, 07.06.2024, tinyurl.com/indes244a1.[2] Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München u. a. 1975.

[3] Ders., L'enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960.

[4] Nicholas Orme, Medieval Children, New Haven u. a. 2001, S. 10.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024