Integration(spolitik) abermals gescheitert? Eine kritische Betrachtung

Von Mahir Tokatlı

Alle Jahre wieder scheint Deutschland über die Integration von Zugewanderten zu debattieren, erklärt sie dann aber recht schnell und regelmäßig für gescheitert. Zunächst sei der zu Tage tretende dezisionistische Charakter und die damit verbundene Nicht-Logik, einen Prozess immer wieder für gescheitert zu erklären, einmal ausgeklammert, da die Anlässe für den Redebedarf wichtiger erscheinen. Solchen Debatten liegen für gewöhnlich gesellschaftspolitische Ausnahmeerscheinungen zugrunde: Hierzu zählen die Silvesterkrawalle in Neukölln 2022, die Vorkommnisse zum Jahreswechsel in Köln 2016 oder aber auch Wahlen in der Türkei und somit die Rolle türkischer Stimmberechtigter und damit verflochtene Loyalitätsfragen zwischen Ankara und Berlin. In diesen Debatten erklären Gazetten, Politiker:innen und auch sogenannte Integrationsexpert:innen die Integration vergleichsweise schnell für gescheitert. Das lässt den Eindruck entstehen, Emotionen oder sogar politisches Kalkül spielten eine gewichtige Rolle und seien bedeutender als eine an dieser Stelle gebotene nüchtern-sachliche politische Analyse.

Integration ist keine Einbahnstraße. Zwar ist dies eine Binsenweisheit und inzwischen ein geflügeltes Wort, dennoch bedarf es hier einer Erinnerung: Obwohl beide Seiten (die Integrierenden und die zu Integrierenden) gleichermaßen zu einem Gelingen oder einem Scheitern beitragen, betrachten und bewerten Politiker:innen sowie Medien beide Seiten nach unterschiedlichen Maßstäben. Wenn klar rechtsextremistische Anschläge auf Personen mit Zuwanderungsgeschichte zu verzeichnen sind, nimmt die Bereitschaft, über Integrationsdefizite zu sprechen, deutlich ab beziehungsweise ist nicht existent und unterstreicht eine deutlich asymmetrische Betrachtung sowie Analyse von Integrationsbemühungen. Will sagen: Die Debatten laufen einseitig über die vermeintlich mangelnde Integrationsbereitschaft oder sogar -fähigkeit der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, aber selten bis kaum über den defizitären Integrationswillen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Nach dem rechtsextremen Attentat auf neun[1] Personen in Hanau wurden diskussionslos die alljährlichen Karnevalsfeierlichkeiten begonnen; der rechtsextreme Mord an Oury Jalloh in Dessau bleibt unaufgeklärt und wird nicht weiterermittelt; als die Polizei feststellte, deutsche Staatsbürger seien mehrheitlich an den Krawallen um den Jahreswechsel in Berlin beteiligt, stellte die dortige CDU eine parlamentarische Anfrage mit der Absicht, die Vornamen der Randalierer in Erfahrungen zu bringen. Es genügt also nicht, die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen und gegebenenfalls auch in diesem Land geboren zu sein, um als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden, wenn die Berliner Christdemokrat:innen sich das Recht vorbehalten, etwaige Ahmets und Erkans als Integrationsverweigerer aus der Mitte der Stefans und Christians herauszufischen.

Zweifellos ist das Thema so brisant wie vielschichtig, sodass dieser Beitrag – der sich bewusst als Kommentar oder Zwischenruf versteht – zunächst in aller Kürze das Konzept „Integration“ skizziert. Das Ziel liegt hierbei darin, diesen Begriff als deplatziert zu verwerfen, da er weder zeitgemäß noch konzeptionell dazu in der Lage ist, die gegenwärtigen Herausforderungen vollständig zu erfassen. In diesem Zusammenhang ist eine Klärung des Begriffs „Scheitern“ ebenfalls unerlässlich und wird den Ausführungen vorangestellt. Erst hierdurch lassen sich Aussagen einiger Politiker:innen besser verstehen sowie in einen horizontal exkludierenden Rechtspopulismus einordnen. Um die Komplexität der Materie zu reduzieren, konzentriert sich der Beitrag auf die Zugewanderten, die mindestens in zweiter Generation hier leben und sich somit lediglich qua Herkunft ihrer (Groß-)Eltern und/oder ihrer Namen von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, sich aber dennoch permanent mit Integrationsfragen konfrontiert sehen. Schließlich sollen migrationsspezifische Problemlagen nicht verschwiegen, indes in einen übergeordneten Kontext gesetzt werden, der sie nicht relativiert, sondern als gesamtgesellschaftliche Probleme identifiziert.

 

Ein unangenehmes Begriffspaar: Scheitern und Integration

Was heißt „scheitern“ und wie unterscheidet sich das Verb von ähnlichen Worten wie „versagen“ oder „misslingen“? Etymologisch entstammt es dem Wort „Scheit“ (Holz) und meint später als Verb „in Trümmern auseinanderbrechen“; schon im 17. Jahrhundert wurde es verwendet, wenn Schiffe Schiffbruch erleiden und zerschellen. Anders als beispielsweise „versagen“, meint also „scheitern“ einen Fehlschlag, der nicht zu revidieren ist. Um im Bild zu bleiben, lässt sich der Kurs bei einem Scheitern nicht zwischenzeitlich korrigieren; um das Ziel zu erreichen, braucht es stattdessen (nicht weniger als) ein neues Schiff. Gleiches gilt auch für Prozesse in der Politikwissenschaft: Wenn beispielsweise eine Koalitionsregierung versagt, dann ist ihr etwas misslungen oder sie erhält negative Kritik, aber sie existiert fort. Anders verhält es sich bei einem Scheitern der Koalitionsregierung, denn das bedeutet das Ende und folglich den Koalitionsbruch. Eine Neuauflage mag denkbar erscheinen, aber nur unter der Voraussetzung einer grundsätzlichen Neuorientierung.

Wenn Politiker:innen oder auch Teile der Gesellschaft die Integrationspolitik für gescheitert erklären, ist dies ein Eingeständnis des Versagens einer Strategie, die benutzt wurde, um einen unerfreulichen Zustand in einen neuen Zustand zu transformieren, also ein Ziel zu verfolgen und es zu realisieren. Wenn die ursprüngliche Strategie gescheitert – also unumkehrbar – ist, dann bedarf es einer neuen Strategie, um das Ziel zu erreichen. In der Integrationspolitik, so scheint es, ändern die mannigfaltigen und wiederholten Feststellungen des Scheiterns jedoch nichts an der Strategie. Insbesondere Politiker:innen konservativer Parteien deklarieren häufig die Integration für gescheitert, ohne Anstrengungen zu unternehmen, Fehler zu korrigieren. Dieses inkonsistente Verhalten folgt einer Nicht-Logik; häufig geht es einzig darum, populistisch Sanktionen zu fordern und mit Verallgemeinerungen die Fronten zu verschärfen. Wenn der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die „Zugewanderten“ als „kleine Paschas“ bezeichnet, eine Gefahr für insbesondere weibliche Lehrkräfte zeichnet und andeutet, dass die Integration gescheitert sei, dann betrachtet er nicht nur ein allgemeines Problem einseitig. Wichtiger ist noch, wie absolut argumentiert und die Integration dezisionistisch abermals für gescheitert erklärt wird, ohne eigene Lösungsvorschläge anzubieten.

In diesem Beitrag geht es nicht darum, Integration soziologisch zu definieren oder unterschiedliche Konzepte, Zugänge und Praktiken auszudifferenzieren und vorzustellen, sondern Vorstellung(en) der Integration zu dekonstruieren. Auf der Homepage des „Bundesministeriums für Inneres und Heimat“ heißt es[2]:

„Die Integration von Zugewanderten soll Chancengleichheit und die tatsächliche Teilhabe in allen Bereichen ermöglichen, insbesondere am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. […]. Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen, die mit einer dauerhaften Bleibeperspektive zu uns kommen, die deutsche Sprache lernen und sich um Grundkenntnisse unserer Geschichte und unseres Staatsaufbaus bemühen.“

Dies sind durchaus erstrebenswerte Ziele, wirken in den tatsächlich geführten Debatten jedoch teilweise deplatziert, da die Beschreibung „Zugewanderte“ durchaus unterschiedlichen Personen zugeordnet wird. So ist es üblich, hier geborene Menschen, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, aber einen „falschen“ Vornamen tragen, unter „Zugewanderte“ zu subsumieren und ihnen die Gretchenfrage der „guten Integration“ zu stellen beziehungsweise sie dem Vorwurf mangelnder Integrationsbereitschaft auszusetzen. Nun impliziert der Begriff der Integration aber, dass Personen von außerhalb neu hinzukommen. Hier Geborene indes sind, ganz gleich welchen Vornamen sie tragen, in der Regel durch staatliche Institutionen bereits seit früher Kindheit in Deutschland sozialisiert. Sie unterscheiden sich von „autochthonen“ Deutschen lediglich in ihrer ethnischen Herkunft und eventuell auch in ihrer sprachlich-kulturellen Erziehung im Elternhaus – wobei letztere zusätzlich zur Sozialisation in deutschen Institutionen geschieht. Wenn verstärkt Einfluss auf die Sozialisation ausgeübt werden soll, ließen sich beispielsweise Betreuungsplätze für Kinder ausbauen. Bestenfalls gäbe es also eine staatlich geschaffene solide Grundlage und eine darüber hinaus gewonnene zusätzliche Erfahrung (zum Beispiel weitere Sprache) beziehungsweise Werte der zu „Integrierenden“. Einseitige Vorwürfe, gerade in muslimischen oder vermeintlich[3] muslimischen Elternhäusern würde eine patriarchale Erziehung stattfinden, weswegen eine Integration unmöglich sei, ignoriert die allgemein patriarchale Prägung der Gesellschaft, die sich auch in Deutschland nach wie vor stark zeigt.

In seinem Buch „Das Integrationsparadox“ erstellt Aladin El-Mafaalani die kluge Diagnose, dass eine gelungene Integration dann erfolgt sei, wenn eine Gesellschaft über sie spricht und Defizite benennt. Wortwörtlich genommen, wäre ironisch festzustellen, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Integration eine Erfolgsstory sei. Schließlich führen wir in nahezu regelmäßigen zeitlichen Abständen (einseitige) Integrationsdebatten. Was El-Mafaalani meint, ist die Fähigkeit der nunmehr hier in dritter Generation lebenden Zugewanderten, offen Probleme sowie negative Erfahrungen zu benennen und damit einhergehend Verbesserungen einzufordern. Allerdings zeigt sich hier ein logischer Fehler, denn die dritte Generation besteht nicht mehr aus Zugewanderten, sondern entweder aus Nachkommen ohne aktive Zuwanderungsgeschichte oder Personen, die hier in Deutschland geboren sind. Qua Geburt sollten diese Personen bereits als Teil der Gesellschaft gelten. Dies würde ein Integrationsbedürfnis überflüssig machen, da sie nicht von „außerhalb“ hinzugekommen sind und somit auch keiner anderen Gesellschaft angehören. Sie kennen in der Regel nur das Leben hier und ihre vermeintliche Heimat meist nur aus dem gemeinsamen Familienurlaub. Somit ist es begrifflich schlicht falsch, von einer Integration zu sprechen, vielmehr wäre Inklusion (und somit Teilhabe) der richtige Terminus. Die deutsche Staatsbürgerschaft für ab dem Jahr 2000 Geborene und somit das Recht beziehungsweise das Privileg, an politischen Prozessen teilzunehmen, ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer solchen Inklusion.

Ferner lässt sich Integration schwerlich messen, auch weil es keinen Standard an guter, schlechter oder erfolgreicher Integration gibt. Ist es eine dichotome oder graduelle Frage: (Ab) Wann bin ich integriert? Wenn ich zum Bier einen Korn bestelle, zur Karnevalszeit bayerische Lederhosen trage oder ein Schweineschnitzel esse? Wenn ich anfange, sonntags in die Kirche zu gehen, oder aufhöre, die Moschee zu besuchen? Wenn mein Antisemitismus sich nicht länger auf den Nahost-Konflikt bezieht, sondern stattdessen ein „sekundärer Antisemitismus“ ist, indem ich den Jüdinnen und Juden den Holocaust nicht verzeihe und mich über den sogenannten Schuldkult beschwere? Gerade das Antisemitismusbeispiel eignet sich hervorragend für die ungleich behandelte Frage der Integration, denn hier wird offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Im Land der selbsternannten Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung müsste im Sinne einer erfolgreichen Erinnerungskultur die Wortschöpfung „importierter Antisemitismus“ zu einem handfesten Skandal führen. Etwas polemisch ließe sich Deutschland sogar als „Mutterland des Antisemitismus“ bezeichnen, sodass eine Internalisierung des Antisemitismus als „gute Integration“ betrachtet werden könnte. Freilich haben sich die Zeiten geändert und Deutschland durchlebt einen Wandel. Zu Recht gilt heute die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson, dennoch ist der Antisemitismus in Deutschland weiterhin präsent. Antisemitische Einstellungen sind in allen Gesellschaftsteilen verbreitet: unter Linken, Rechten, in der politischen Mitte und bei den sogenannten Zugewanderten. Letztere sind sicherlich anders vorgeprägt und aufgrund (pop)kultureller Instrumente wie Serien, TV-Formate oder Social Media auch anfälliger, weil sie häufiger damit konfrontiert sind. Aber wenn man sich die neuerlichen Protestbewegungen in der Bundesrepublik anschaut (Pegida, Reichsbürger:innen und Spaziergänger:innen), dann ist ebenfalls ein extrem hohes antisemitisches Potential zu erkennen. Statt von einem „importierten“ Antisemitismus zu sprechen, wäre es zielführender, das spezifische antisemitische Potential der „Zugewanderten“ mit darauf zugeschnittenen Projekten zu reduzieren. Hier lassen sich Beispiele wie „HEROES“, „Junge Muslime in Auschwitz“ etc. aufführen, die jedoch teilweise nicht länger existieren. Ein mangelhaftes Interesse deutscher Politik und Bildungsarbeit trägt zu diesem traurigen Befund bei.

 

Migrationsspezifische Schieflagen

Wenn in Neukölln jüdische Personen Angst haben müssen, mit einer Kippa auf die Straße zu gehen, dann stellt das ein großes gesellschaftliches Problem dar, das unbedingt angegangen werden muss. Allerdings nicht, indem eine vermeintlich identifizierte homogene Gruppe[4] bezichtigt wird, den Antisemitismus nach Deutschland importiert zu haben. In Deutschland finden Angriffe auf jüdische Personen nicht ausschließlich seitens muslimischer Personen statt und diese sind auch nicht verantwortlich für „deutschen“ Antisemitismus, den es länger gibt als Zuwanderung aus muslimischen Ländern. Auch wenn Politiker:innen das Problem scheinbar identifiziert haben und mit den Fingern auf vermeintlich Schuldige zeigen, tragen sie keinesfalls zur Problemlösung bei. Wertvoller als populistische Aussagen wären konkrete Handlungen, die mittel- bis langfristig ein solch erhöhtes Antisemitismuspotenzial reduzieren würden, indem politische Bildungsangebote geschaffen werden, die insbesondere diese Personen ansprechen.

Freilich verlieren Menschen nicht automatisch ihre Bindung zum Heimatland, sobald sie die Grenzen überqueren. Auch ist es wenig verwunderlich, wenn sie Erfahrungen, Werte und Normen an ihre Nachkommen weitergeben, die allerdings mit den Erfahrungen, Werten und Normen der neuen Heimat synthetisiert werden. In vielen Fällen werden gesellschaftliche, soziale und politische Konflikte aus den Herkunftsländern exportiert und auch weitervererbt. Eine wichtige Aufgabe wäre es, diese Konfliktfelder zu minimieren und die negativen Implikationen erfolgreich zu kanalisieren. Gerade der Antisemitismus wäre hierfür geeignet, denn aufgrund der deutschen Geschichte gäbe es Ansätze, Ungerechtigkeiten zu erkennen und Raum für Empathie zu schaffen.

Ein anderer Vorwurf sind die patriarchalen Einstellungen der Zugewanderten, der wiederum eng mit den „Pascha“-Ausführungen des CDU-Vorsitzenden verbunden ist. Hier führen zwar Vorurteile und die damit verbundene Überlagerung eigener Probleme zu einer asymmetrischen Betrachtung, dennoch lassen sich Tendenzen auch in diesem Falle nicht leugnen. Mag das Patriarchat ein gesamtgesellschaftliches Problemfeld bilden, so scheinen doch bestimmte patriarchale Einstellungen durchaus migrationsspezifisch zu sein. Parallel zum Antisemitismus müssen Projekte gestartet und gefördert werden, die das Männlichkeitsbild, sowohl in migrantischen Communities als auch in der Mehrheitsgesellschaft, kritisch hinterfragen.

Nicht vergessen werden darf ferner, dass migrationsspezifische Schieflagen eng mit sozio-ökonomischen Ungleichheiten verbunden sind. Wenn über Konflikte in sogenannten Brennpunkten wie Duisburg-Marxloh, Dortmund-Nordstadt oder Bonn-Tannenbusch gesprochen wird, sollte die ökonomische Dimension mitbedacht werden, nicht im Sinne einer Relativierung, sondern einer ganzheitlichen Problemanalyse. Nun scheint aber die (vermeintliche) Identifikation des Problems, die Benennung einer kulturellen Andersartigkeit und in Konsequenz eine attestierte Integrationsunfähigkeit wichtiger zu sein als Versuche, Probleme politisch zu lösen. Denn während vermehrt Stimmen zu vernehmen sind, die von gescheiterter Integration sprechen, bieten sie keinerlei konstruktive Lösungsvorschläge an. Auch wenn sie die Gelegenheit haben, bildungspolitisch beispielsweise als Teil einer Landesregierung Einfluss auszuüben, verharren diese Stimmen für gewöhnlich in der rechtspopulistischen Rhetorik der horizontalen Exklusion aufgrund ethnischer Merkmale, sogar, wenn die angesprochenen Personen Teil des gleichen Demos sind, sie also die gleiche Staatsbürgerschaft besitzen. Diese oberflächliche, an der kulturellen Andersartigkeit orientierte Kritik weist so viele Unzulänglichkeiten auf, dass man sich die Frage stellen muss, ob sie seriöser Natur ist – vor allem, wenn man die Bedeutung des Wortes „Kultur“ kennt und einsieht, dass hier nichts Festes bzw. Starres gemeint ist, sondern Wertvorstellungen, Normen und Verhaltensweisen, die kultiviert werden und somit stets im Wandel begriffen sind.

 

Schlussfolgerungen

Letztlich bedarf es einer differenzierten Debatte, die offensichtliche Defizite klar benennt, ohne jedoch diese verallgemeinernd und ausschließlich auf Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu reduzieren. Sowohl antisemitische als auch patriarchale Einstellungen sind in der Mehrheitsgesellschaft alles andere als unbekannt. Entscheidend sind bildungspolitische Angebote, die spezifisch auf das Ziel einer guten und diskriminierungsärmeren Gesellschaft ausgerichtet sind.

Auch sollte der Begriff der Integration bei Menschen, die hier geboren sind und das Leben nur hier kennen, verworfen und durch gleichberechtigte Teilhabe ersetzt werden. Qua Geburt oder Vorname ist nicht zwangsläufig ein „Integrationsbedarf“ zu unterstellen. Vielmehr müssen in einer gut funktionierenden Gesellschaft alle Mitglieder – unabhängig der Vornamen, der Herkunft etc. – inkludiert und, sofern sie sich durch eigenes Handeln außerhalb des Rahmens der Gesellschaft bewegen – eventuell integriert werden. In jüngerer Vergangenheit haben sich Reichsbürger:innen derartig außerhalb der Gesellschaft bewegt; diese gilt wieder zu integrieren, und nicht präventiv die Ebrus, Ahmets, Erkans und Fatmas unserer Gesellschaft. Dies gilt umso mehr, da es keine exakten Indikatoren zur Messung gelungener Integration sogenannter Zugewanderter gibt, wohl aber demokratische Spielregeln und Grundprinzipien, die eben für den abstrakten Anderen gelten – also alle.

[1] Die Mutter des Attentäters ist das zehnte Opfer, wird hier aber bewusst nicht unter die Betroffenen eines rechtsextremistischen Attentates“ subsumiert. Die Motive waren hier anders gelagert.

[2] https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/integration/integration-bedeutung/integration-bedeutung.html[3] Alevitische, jezidische oder armenische Familien, die aus der Türkei kommen, sind in der Regel nicht muslimisch, aber werden häufig so gelesen.

[4] Auch nicht-muslimische Personen werden als solche gelesen und müssen sich dann für den „Import“ rechtfertigen.

Seite ausdrucken

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.  2-2023 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2023