Frankreichs V. Republik mit 66 Jahren Noch lange nicht Schluss oder reif für die Rente?
Frankreichs V. Republik feiert im Oktober dieses Jahres ihren 66. Geburtstag. Damit ist die 1958 in Kraft getretene Verfassung inzwischen zur langlebigsten der an Verfassungen wahrlich nicht armen französischen Geschichte aufgestiegen. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerregimen hat die V. Republik im Laufe der vergangenen sechseinhalb Jahrzehnte eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit bewiesen und eine Reihe von institutionellen Herausforderungen gemeistert. Sie überdauerte nicht nur die »Abdankung« ihres Gründervaters Charles de Gaulle 1969 sowie mehrere Machtwechsel von der Rechten zur Linken und zuletzt zum Zentrum, sondern auch die insgesamt drei Phasen der Kohabitation, in denen sich der Präsident einem Regierungschef und einer Parlamentsmehrheit anderer politischer Couleur gegenübersah. Ihre historische Langlebigkeit erscheint umso bemerkenswerter, als Forderungen nach einer neuen Verfassung die V. Republik praktisch seit ihrer Gründung begleiten. Solche verfassungsrechtlichen Debatten, die in Anbetracht der wechselhaften französischen Verfassungsgeschichte als »passion française«[1] gelten können, haben in der jüngeren Vergangenheit wieder an Fahrt aufgenommen. Hauptgrund hierfür ist die wachsende Frustration der Bevölkerung mit der gegenwärtigen institutionellen Architektur.
In einer Umfrage anlässlich des 60. Geburtstags der V. Republik gab 2018 die Hälfte der Befragten an, mit dem Funktionieren des politischen Systems unzufrieden zu sein. Dieser weitverbreitete Unmut schlägt sich in dem Wunsch nach einer Reform des V. Republik nieder. 46 Prozent der Befragten forderten eine tiefgreifende Änderung der Verfassungsordnung, fast ebenso viele zumindest eine Anpassung der bestehenden Institutionen. Lediglich sechs Prozent sahen keinen Grund für eine institutionelle Reform der V. Republik.[2] Auch die sinkende Wahlbeteiligung kann als Indikator für die tiefsitzende Unzufriedenheit mit dem politischen System dienen. In der Stichwahl um die Präsidentschaft 2022 erreichte die Wahlbeteiligung mit knapp 72 Prozent ihren niedrigsten Wert seit fünfzig Jahren – zieht man die aus Protest ungültig oder leer abgegebenen Stimmzettel ab, votierten lediglich zwei Drittel der Wahlberechtigen, wobei die Wahlenthaltung insbesondere der jungen Generation besorgniserregende Ausmaße annahm.[3] Bei der Parlamentswahl 2022 fiel die Teilnahme sogar in beiden Wahlgängen unter 50 Prozent. Schließlich schlägt sich die wachsende Entfremdung der Bevölkerung von den gegenwärtigen politischen Institutionen auch darin nieder, dass bei der Präsidentschaftswahl 2022 mehr als die Hälfte der Wähler:innen im ersten Wahlgang für eine:n der drei systemkritischen Kandidat:innen Jean-Luc Mélenchon, Marine Le Pen und Éric Zemmour stimmten.
Eine republikanische Monarchie
Hauptkritikpunkt an der V. Republik ist die starke Machtkonzentration beim Präsidenten. Dessen dominierende Stellung wird umso kritischer gesehen, als sie sich nicht rein aus dem Verfassungstext ableiten lässt. Zwar verfügt der Präsident über erhebliche formale Kompetenzen, allerdings soll er mittels dieser lediglich das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Gewalten gewährleisten. Die Bestimmung der Regierungspolitik obliegt hingegen qua Verfassung dem Premierminister und seiner Regierung. Das Zusammenspiel von präsidentialistischer Verfassungspraxis, einem erheblichen Legitimationsgewinn durch die nachträgliche Einführung der Direktwahl des Präsidenten sowie der Herausbildung einer stabilen Parlamentsmehrheit zur Unterstützung der Regierungspolitik haben indes zu einer enormen Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und -praxis beigetragen.[4] Sofern der Präsident über eine parlamentarische Mehrheit verfügt – was seit Gründung der V. Republik der Regelfall war –, vermag er die Funktionstrennung zwischen Präsident und Regierung aufzuheben und selbst als eigentlicher Mehrheitsführer zu agieren. In der Praxis legt der Präsident die politischen Linien fest, während der Premierminister – der de facto allein vom Vertrauen des Präsidenten abhängt – lediglich mit deren Umsetzung betraut ist. Die beiden Rollen des gestaltungsmächtigen Chefs der Exekutive und des symbolträchtigen Staatsoberhauptes in seiner Person vereinend, verfügt der Präsident über eine Machtfülle, zu deren Beschreibung sich der Begriff der republikanischen Monarchie eingebürgert hat.[5]
Neben der präsidentiellen Vormachtstellung bildet die schwache Position des Parlaments den zweiten Hauptkritikpunkt an der institutionellen Architektur der V. Republik. Umfragen zufolge wünscht sich mehr als die Hälfte der Befragten eine Stärkung der Nationalversammlung.[6] Deren untergeordnete Rolle im politischen System ergibt sich aus dem Zusammenwirken von institutioneller Schwäche, geringem parlamentarischem Selbstbewusstsein und präsidentialistischer Verfassungspraxis. Um die gouvernementale Instabilität der als »Herrschaft der Kammern« apostrophierten IV. Republik zu beseitigen, wurde das Parlament von den Verfassungsvätern der V. Republik mittels einer Reihe von verfassungsrechtlichen Fesseln gebändigt. Bekanntestes Instrument des sogenannten »rationalisierten Parlamentarismus« ist der berüchtigte Verfassungsartikel 49.3, der es der Regierung unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, einen Gesetzestext ohne parlamentarische Abstimmung zu verabschieden. Diese bereits verfassungsrechtlich prekäre Stellung des Parlaments wurde durch die Verfassungspraxis weiter geschwächt, da die Parlamentsmehrheit der Regierung traditionell äußerst loyal, ja fast schon unterwürfig gegenübersteht. Die Nationalversammlung wird daher klassischerweise als reine »Registrierkammer«[7] wahrgenommen, die die Gesetzesentwürfe der Regierung nur noch abnickt. Auch nach einer Verfassungsänderung 2008, mit der unter anderem die Stellung des Parlaments aufgewertet werden sollte, hat sich an der parlamentarischen Folgsamkeit gegenüber der Regierung kaum etwas geändert.
Vom folgenschweren Ende eines Betriebsunfalls
Lediglich in den drei Phasen der Kohabitation herrschte ein annäherndes Machtgleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative. In Abwesenheit einer eigenen Parlamentsmehrheit behielt der Präsident nur in seiner domaine réservé der Außen- und Sicherheitspolitik eine führende Rolle. Alle anderen Politikbereiche lagen nun in der Verantwortung des Premierministers und seiner Regierungsmehrheit. Diese Verschiebung der Machtverhältnisse stieß allerdings auf ein geteiltes Echo. Während sich das institutionelle Gleichgewicht in der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreute, wurde die Kohabitation von den meisten politischen Akteur:innen als Betriebsstörung betrachtet, die gegen den mehrheitsdemokratischen Geist der V. Republik verstoße. Eine Verfassungsänderung im Jahr 2000 sollte daher als »Gegengift« gegen weitere Kohabitationen dienen.[8] Die bis dahin siebenjährige Amtszeit des Präsidenten wurde der Legislaturperiode der Nationalversammlung angepasst und auf fünf Jahre verkürzt. Außerdem findet durch eine Umkehrung des Wahlkalenders die Präsidentschaftswahl fortan kurz vor den Parlamentswahlen statt, um die Wahrscheinlichkeit eines Auseinanderfallens von präsidentieller und parlamentarischer Mehrheit zu minimieren.[9] Dieses »Gegengift« scheint gewirkt zu haben, da seit der Verfassungsreform jeder neugewählte Präsident mit einer Parlamentsmehrheit ausgestattet worden ist – auch wenn Emmanuel Macron nach seiner Wiederwahl 2022 mit einer relativen Mehrheit vorliebnehmen musste.
Da eine abermalige Kohabitation in weite Ferne gerückt zu sein scheint, hat sich die präsidentielle Dominanz über Regierung und Parlament weiter verschärft. Der Premierminister wird zunehmend zum Mitarbeiter des Präsidenten degradiert, der die präsidialen Vorstellungen in Regierungspolitik zu gießen hat. Auch das Parlament hat infolge der Verfassungsänderung weiter an Bedeutung verloren: Im Sog des Präsidenten gewählt, werden die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion zuvorderst als Vollstrecker:innen seines Programms wahrgenommen. Der Bedeutungsverlust des Parlaments spiegelt sich auch in der tiefen Kluft bei der Wahlbeteiligung zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl von zuletzt 26 Prozentpunkten. Die Harmonisierung der Wahlkalender hat die Parlamentswahlen massiv entwertet, da sie lediglich das Ergebnis der politisch entscheidenden Präsidentschaftswahl bekräftigen sollen.
Die Entzauberung des Präsidentenamts
Die wachsende Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der V. Republik liegt allerdings nicht allein in ihrer institutioneller Architektur, sondern auch in den widersprüchlichen Anforderungen an das Präsidentenamt begründet. Bis heute entfaltet der Mythos des homme providentiel, einer vom Schicksal gesandten und mit einer historischen Mission zur Rettung Frankreichs betrauten Person, große Wirkmacht.[10] Charles de Gaulle, der diese Retterfigur par excellence verkörperte, charakterisierte die Präsidentschaftswahl als die Begegnung eines Mannes und eines Volkes und lud das ohnehin mit einer beispiellosen Machtfülle ausgestattete Amt so zusätzlich mit einer beinahe sakralen Bedeutung auf. Eine solche Überfrachtung des Präsidentenamts ist jedoch zwangsläufig mit einer entsprechenden Fallhöhe verbunden. Daher mündet die überdimensionierte Erwartungshaltung an den neugewählten Präsidenten fast zwangsläufig in eine Desillusionierung, denn entgegen der mythischen Überhöhung als Heilsbringer ist sein faktischer Handlungsspielraum angesichts politischer und wirtschaftlicher Zwänge sehr wohl begrenzt. Darüber hinaus kollidiert die zentralistische Regierungspraxis mit dem wachsenden Wunsch nach einer partizipativeren Demokratie.[11]
Auch der Parteiensystemwandel wirkt sich negativ auf die Wahrnehmung des Präsidentenamts aus. Heute dient die Präsidentschaftswahl immer weniger einer affirmativen Entscheidung für einen Kandidaten, sondern lediglich der Verhinderung eines Wahlsiegs der extremen Rechten. Zwar befördert das Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen seit jeher die taktische Stimmabgabe in der Stichwahl, um den missliebigsten der beiden verbliebenen Bewerber zu eliminieren. Jahrzehntelang standen sich im zweiten Wahlgang jedoch traditionell ein Mittelinks- und ein Mitterechts-Kandidat gegenüber, sodass die Wählerschaft zwischen zwei aus demokratischer Sicht gleichwertigen Alternativen wählen konnte. Durch den Aufstieg der extremen Rechten hat sich die Ausgangslage jedoch dramatisch verändert. Konnte Jean-Marie Le Pens überraschender Einzug in die Stichwahl 2002 noch als demokratischer Unfall gewertet werden, war die Präsenz seiner Tochter Marine in den letzten beiden Stichwahlen Monate im Voraus von den Umfragen vorhergesagt worden und stellte beileibe keine Überraschung mehr dar. Auch mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2027 scheint der Einzug der extremen Rechten in den zweiten Wahlgang mehr oder minder gewiss. Damit hat sich der Charakter der Präsidentschaftswahl fundamental gewandelt. Für breite Wählerschichten geht es nicht mehr um eine Entscheidung zwischen zwei demokratisch legitimierten Kandidaten, sondern darum, eine Machtübernahme der extremen Rechten durch die Wahl des einzigen republikanischen Kandidaten zu verhindern. Folglich ist die Legitimität des neugewählten Präsidenten deutlich fragiler, da er seine Wahl weniger der mehrheitlichen Zustimmung zu seiner Person als einem demokratischen Reflex verdankt. Dass auch die Wählerschaft dieses Mechanismus zunehmend überdrüssig ist, zeigt ein Blick auf die Ergebnisse der beiden letzten Präsidentschaftswahlen. Während Macron in der Stichwahl 2017 noch 32 Prozentpunkte vor Le Pen gelegen hatte, betrug sein Vorsprung 2022 nurmehr halb so viel. Auch die rund drei Millionen ungültigen oder leeren Stimmzettel dokumentierten eindrucksvoll den vor allem in linken Wählerschichten wachsenden Unwillen, entgegen ihren eigentlichen politischen Überzeugungen für Macron als kleineres Übel zu stimmen.[12]
Ein Systemupdate als Antwort auf die demokratische Krise?
Die Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit der Funktionsweise des politischen Systems hat die Debatte über eine Reform der Institutionen der V. Republik neu entfacht. Präsident Macron hat in den vergangenen Jahren mehrere Initiativen angeschoben, um das politische System einer dringend benötigten Frischzellenkur zu unterziehen – wenngleich mit überschaubarem Erfolg. Bei seinem Amtsantritt 2017 hatte er die teilweise Einführung des Verhältniswahlrechts in Aussicht gestellt und sich damit eine Forderung zu eigen gemacht, die seit Langem von großen Teilen des politischen Spektrums schon seit Langem erhoben wird, um eine getreuere Abbildung der Kräfteverhältnisse in der Nationalversammlung zu gewährleisten. Dieses Wahlversprechen wurde indes bis heute nicht eingelöst. In Reaktion auf die im Zuge der Gelbwestenproteste 2019 lautstark erhobene Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung hob Macron dann mit dem grand débat national sowie dem Klima-Bürgerrat zwei partizipative Politikformate aus der Taufe. Allerdings blieben die konkreten Resultate in beiden Fällen deutlich hinter den hochgesteckten Erwartungen zurück und entpuppten sich in erster Linie als demokratisches Feigenblatt.[13] Auch seine zweite Amtszeit eröffnete Macron mit großen Ankündigungen, die demokratische Malaise zu lindern. So versprach er eine neue, verstärkt auf Dialog und Konzertation basierende Regierungsmethode und stellte ein besseres Zusammenspiel von Regierung, Verwaltung, Parlament und Sozialpartnern in Aussicht. Zugleich rief er mit dem Conseil national de la refondation (CNR) ein neues Gremium ins Leben, das eine breite gesellschaftliche Diskussion zur Erneuerung der französischen Demokratie anstoßen sollte.[14] Zur Halbzeit von Macrons zweiter Amtszeit ist jedoch trotz aller hehren Versprechen keine demokratische Erneuerung festzustellen. Der mit großen Pomp gestartete CNR fristet, von den Oppositionsparteien und Gewerkschaften boykottiert, ein Schattendasein. Auch von einer neuen Regierungsmethode kann keine Rede sein. Vielmehr kehrte Macron schon bald zu seinem vertikalen Regierungsstil zurück, wie seine ohne Parlamentsbeschluss durchgepeitschte Rentenreform im Frühjahr 2023 eindrucksvoll vor Augen führte.
Im Oktober 2023 stellte Macron schließlich eine Verfassungsreform in Aussicht, um der Bevölkerung größere direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen. Frankreich gilt traditionell als Musterland für direkte Demokratie »von oben«, da bislang sämtliche Referenden auf die Initiative des Präsidenten zurückgingen. Zwar gibt es seit 2008 auch die Möglichkeit einer im Zusammenspiel mit dem Parlament von unten ausgelösten Volksabstimmung, allerdings sind die Hürden dieses référendum d‘initiative partagée (RIP) sehr hoch. Neben einem Fünftel des Parlaments müssten zehn Prozent der Wählerschaft, also knapp fünf Millionen Bürger:innen, das Anliegen unterstützen; insofern überrascht es kaum, dass dieses Verfahren bislang noch nie erfolgreich angewendet wurde. Darüber hinaus steht auch die thematische Begrenzung von Referenden auf spezifische Politikbereiche (Verfassungsänderungen, internationale Verträge, Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik) in der Kritik. Vor diesem Hintergrund schlug Macron vor, das Quorum für ein RIP auf eine Million Unterschriften abzusenken und gleichzeitig den thematischen Anwendungsbereich für Referenden zu erweitern.[15] Ob eine solche Reform bis zum Ende von Macrons Amtszeit 2027 tatsächlich umgesetzt wird, bleibt jedoch abzuwarten. Der parlamentarische Weg erscheint in Ermangelung der für eine Verfassungsänderung benötigten Drei-Fünftel-Mehrheit in beiden Parlamentskammern kaum gangbar, sodass lediglich eine mögliche Verabschiedung per Volksentscheid realistisch scheint.
Die Republik ist tot, lang lebe die Republik?
Angesichts der Unzufriedenheit mit der Funktionsweise des politischen Systems werden zudem immer wieder Rufe nach einer gänzlich neuen Verfassungsordnung laut. Die Vorstellungen, wie eine solche VI. Republik aussehen könnte, gehen allerdings weit auseinander. Ein erster Reformvorschlag, der im ehemaligen Präsident François Hollande einen prominenten Fürsprecher hat, plädiert für die Einführung eines »echten« Präsidialsystems.[16] Da der Präsident als faktischer Mehrheitsführer ohnehin alle Fäden in der Hand habe, gelte es die Verfassungspraxis mit dem Verfassungstext in Einklang zu bringen und den institutionell »überflüssigen« Posten des Premierministers abzuschaffen. Zugleich solle die institutionelle Rolle des Parlaments durch eine strikte Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Legislative nach US-amerikanischem Vorbild gestärkt werden. Der Präsident könnte demnach die Nationalversammlung nicht länger auflösen, das Parlament im Gegenzug nicht länger die Regierung stürzen. Ein zweiter Vorschlag, der am vehementesten vom Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon vertreten wird, sieht hingegen die Schaffung eines rein parlamentarischen Regierungssystems vor.[17] Diesem Modell zufolge soll die gesamte Regierungsgewalt dem vom Parlament gewählten Premierminister übertragen werden, was mit einem Bedeutungsgewinn für die Regierung und die Nationalversammlung verbunden wäre. Im Gegenzug würde der Präsident auf seine symbolische und staatsnotarielle Funktionen zurückgestutzt. Für die Bestellung des Präsidenten böten sich dann zwei Optionen. Er könnte entweder weiterhin per Direktwahl bestimmt werden, wobei die Kombination aus Direktwahl und institutionell schwachem Präsidenten wie in Österreich oder Finnland in westlichen Regierungssystemen eher die Ausnahme ist. Konsequenter, aber nach jahrzehntelanger direktdemokratischer Praxis politisch wohl kaum vermittelbar, wäre daher die Rückkehr zu einer indirekten Wahl des Präsidenten.
Ungeachtet ihrer unterschiedlichen institutionellen Ausgestaltung ähneln sich beide Reformvorschläge in der Zielsetzung. Sie sehen zum einen eine Stärkung des Parlaments vor, um dem bestehenden Machtungleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative entgegenzuwirken. Zum anderen zielen beide Reformpläne auf eine Harmonisierung von Regierungsmacht und parlamentarischer Verantwortung ab. Schließlich bestimmt zurzeit der vom Parlamentsvertrauen unabhängige Präsident die Regierungspolitik, während der Premierminister zwar die parlamentarische Verantwortung trägt, faktisch aber nur ausführendes Organ des Präsidenten ist. Die Umsetzungschancen eines solchen kompletten Regimewechsels auf dem legislativen Weg scheinen indes noch geringer als die einer vergleichsweisen moderaten Verfassungsreform. Zu der oben genannten vertrackten politischen Ausgangslage kommt nämlich erschwerend hinzu, dass sich die parteipolitisch gespaltenen Parlamentskammern aufgrund ihrer unterschiedlichen Vorstellungen vermutlich kaum auf die konkrete Ausgestaltung einer neuen Verfassungsordnung einigen könnten. Als einzig gangbare Alternative bliebe somit abermals ein Volksentscheid, zumal die mehrheitliche Zustimmung zu einer neuen Verfassung eingedenk des eingangs angeführten Meinungsbilds im Rahmen des Möglichen liegen sollte. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass Macron sich einen der beiden Reformvorschläge zu eigen macht und der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegt. Da er bislang jedoch keinerlei Bereitschaft für die Einführung einer neuen Verfassungsordnung zu erkennen gegeben hat, scheint vieles darauf hinzudeuten, dass die V. Republik ihren Rekord als langlebigste Verfassung Frankreichs weiter ausbauen wird.
[2] Vgl. Bruno Cautrès, Le soutien en demi-teinte des Français à la Cinquième République, in: Olivier Duhamel u. a. (Hg),
La Ve République démystifiée, Paris 2019, S. 217–224, hier S. 220 f.
[3] Vgl. Udo Kempf, Die französischen Präsidentschaftswahlen vom 10. und 24. April 2022, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 3/2022, S. 600–616, hier S. 615.
[4] Vgl. Adolf Kimmel, Der Verfassungstext und die lebenden Verfassungen, in: Ders. / Henrik Uterwedde (Hg): Länderbericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 2012, S. 68–91.
[5] Vgl. Maurice Duverger, La monarchie républicaine, Paris 1974.
[6] Vgl. Cautrès, S. 221.
[7] Udo Kempf, Das politische System Frankreichs, Wiesbaden 2017, S. 105.
[8] Vgl. Nicolas Roussellier, Un pouvoir présidentiel encombré de sa force, in: Olivier Duhamel u. a. (Hg), La Ve République démystifiée, S. 9–26, hier S. 24.
[9] Vgl. Sabine Ruß, Frankreich, in: Hans-Joachim Lauth (Hg.), Politische Systeme im Vergleich. Formale und informelle Institutionen im politischen Prozess, Berlin u. a. 2014, S. 127–162, hier S. 143.
[10] Vgl. Jean Garrigues, La tentation du sauveur. Histoire d’une passion française, Paris 2022.
[11] Vgl. Bastien François, Jupiter aux pieds d’argile, in: Olivier Duhamel u. a. (Hg.), La Ve République démystifiée, Paris 2019, S. 37–43.
[12] Vgl. Simon Braun, Frankreichs neue Parteienlandschaft. Starke politische Ränder und ein geschwächtes Zentrum, in: INDES, H. 1–2/2022, S. 184–192, hier S. 186.
[13] Vgl. Guillaume Gourgues & Alice Mazeaud, La démocratie participative selon Emmanuel Macron. La participation citoyenne au service de la monarchie républicaine, in: Bernard Dolez u. a. (Hg), L’entreprise Macron à l’épreuve du pouvoir, Grenoble 2022, S. 53–64.
[14] Vgl. Simon Braun, Schöne neue Welt? Das französische Parteien- und Regierungssystem nach dem Wahljahr 2022, in: Deutsch-Französisches Institut (Hg.): Frankreich Jahrbuch 2022, Baden-Baden 2023, S. 229–243, hier S. 236.
[15] Vgl. Nathalie Segaunes, Emmanuel Macron propose de réviser la Constitution sur le champ du référendum et le recours au référendum d’initiative partagée, in: Le Monde, 04.10.2023,tinyurl.com/indes24110a.
[16] Vgl. François Hollande, Instaurer un véritable régime présidentiel, avec un Parlement plus fort, in: Le Monde, 21.10.2019,tinyurl.com/indes24110b.
[17] Vgl. Jean-Luc Mélenchon, Comment nous allons passer à la sixième République, S. 18, tinyurl.com/indes24110c.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.1-2-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024