Editorial Heft 3-4-2024

Von Katharina Rahlf  /  Simon Braun

»Der Bundestag ist aber kein Kindergarten!«, stellte bereits der sozialdemokratische Abgeordnete Fritz Erler während einer Bundestagsdebatte im Jahr 1952 fest – begleitet vom amüsierten Zuruf: »Aber manchmal scheint es doch so!«[1]Gut fünfzig Jahre später beschied Guido Westerwelle Sympathiebekundungen zwischen dem grünen Abgeordneten Winfried Nachtwei und dem Sozialdemokraten Gert Weisskirchen mit  einem enervierten: »Das ist doch hier kein Kindergarten!«[2] Und als die Vizepräsidentin Claudia Roth eine Bundestagsdebatte während der Corona-Pandemie unterbrechen musste, um den Abgeordneten Harald Ebner zum korrekten Tragen der Maske zu ermahnen, schallte es ebenfalls: »Das ist kein Kindergarten.«[3]

Ganz offenbar taugt der Vergleich mit der Betreuungsinstitution für 3- bis 6-jährige Kinder schon seit Gründung des Parlaments zu dessen Verunglimpfung. Gleiches gilt für das Attribut »kindisch« – wenn Politiker:innen einander ein solches Verhalten attestieren (so etwa Joachim Gauck dem betagten Helmut Schmidt[4] oder der einstige LINKEN-Vorsitzende Bernd Riexinger dem Agieren der Sozialdemokrat:innen[5]), ist das selten als Kompliment gemeint. Im Gegenteil: Wer kindisch agiert, handle unüberlegt, naiv, aufbrausend, jähzornig oder schlichtweg dumm.

Kinder und kindliches Verhalten haben also in der Politik, so gemeinhin der Tenor, wenig verloren, stehen sich gar diametral gegenüber. Die vorliegende INDES möchte nicht nur diesen vermeintlichen Antagonismus hinterfragen, sondern den Zusammenhang »Kinder bzw. Kindheit und Politik« möglichst weit und aus unterschiedlichsten Perspektiven ausleuchten.

Obgleich in der schon 1989 verabschiedeten UN-Kinderrechtskonvention die Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte von Kindern festgeschrieben sind, kamen die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft – jenseits von Allgemeinplätzen zur bestmöglichen Förderung des Nachwuchses – im politischen Diskurs lange Zeit nur am Rande vor. Doch seit einigen Jahren ist – gewiss befördert durch das wachsende Bewusstsein ob der katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise auf die künftigen Lebensbedingungen – eine verstärkte Beschäftigung mit unseren Kleinsten zu beobachten, die sich beispielsweise in den politischen Debatten über die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz oder die Einführung einer Kindergrundsicherung widerspiegelt.

Parteipolitisch haben es die Jüngsten zumindest auf die Plakatwände geschafft: Vom Wahlslogan der Grünen 1983 »Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt« bis hin zu einer ehemaligen AfD-Parteivorsitzenden, die mit ihrem Säugling auf einem Wahlplakat posierte: Vom »Umweg« über den Nachwuchs verhofften sich bereits einige Parteien Stimmenzuwächse unter den erwachsenen Wähler:innen.  Auch mangelt es sicherlich nicht an Projekten der politischen Bildungsinstitutionen, die den Kleinen möglichst früh demokratische Prozesse näherbringen wollen – allerdings lässt sich hier stets fragen, ob solche Maßnahmen in allen gesellschaftlichen Milieus verfangen oder ob die Sprösslinge privilegierter Elternhäuser nicht gewissermaßen »doppelt« profitieren und die soziale Schere sich gar noch weiter öffnet.

Darüber hinaus ist der Konnex »Kindheit und Politik« jedoch weitgehend unbeackert. Wir möchten jedenfalls in die Tiefe bohren, auch bislang unerforschte Gefilde erkunden und dabei keinesfalls nur Politolog:innen, sondern ebenso Vertreter:innen angrenzender Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, Psychologie, Philosophie, Philologie und der Sozialwissenschaften allgemein zu Wort kommen lassen.

Gleich zu Beginn etwa erfahren wir, dass die viel zitierte »Erfindung der Kindheit« nicht nur eine verkürzte, sondern gar längst widerlegte Formel ist. Und auch sonst lehrt die Retrospektive einiges über die Ursprünge gegenwärtiger Kindheitsvorstellungen: Ein Gespräch über »böse Kinder« beispielsweise ergründet die Faszination der Literatur für Figuren, die rein gar nichts mit niedlich-unschuldigen Sprösslingen zu tun haben.

Des Weiteren geht es um Gruppen von Kindern, die spezifische Merkmale teilen: Wie lässt sich die sogenannte Corona-Generation charakterisieren, welche Prägekraft hat eine Kindheit in Ostdeutschland, mit welchen Stigmata ist die Bezeichnung »Arbeiterkind« nach wie vor behaftet und unter welchen teils desaströsen Bedingungen wachsen Kinder in Flüchtlingsunterkünften hierzulande auf?

Sodann werden die Entwicklungen in der deutschen Gesetzgebung zur Kinderbetreuung und deren Auswirkungen etwa auf soziale Ungleichheiten nachgezeichnet. Anschließend richtet sich der Blick ins Ausland, genauer: auf Japan und die dortige Kinderbetreuungspolitik; auf Südkorea und den drohenden »demografischen Kollaps«; schließlich auf Griechenland und abermals Japan, diesmal hinsichtlich internationaler Adoptionen.

Wann Kinder (nicht) am besten bei ihren Eltern aufgehoben sind und warum staatliche Eingriffe hier äußerst zurückhaltend erfolgen sollten, wird ebenso diskutiert wie die Fragen, wie vor dem Hintergrund allseits beschworener »Beteiligt Euch«-Formeln auch stille Kinder, nämliche solche mit selektivem Mutismus, gehört werden können; oder wie Eltern mit den »Ambivalenzen geschlechtsneutraler Erziehung« umgehen, wenn sie merken, dass »Gleichheitsansprüche und Lebenspraxis« kollidieren.

Zudem werden Kinder nicht selten mit »Funktionen« versehen: Mal dienen sie als »Investitionsobjekte«, mal müssen sie als »moralisierendes Argument« herhalten, mal werden sie von  reaktionären Bewegungen, speziell dem politischen Puritanismus sowie vor allem der antiqueeren Bewegung, als »argumentative Munition« requiriert. Doch auch Vorhaben, Kindern »eine Stimme zu geben«, erweisen sich bei genauerem Blick oft als Instrumentalisierungsversuche – in welchem Verhältnis also stehen »›kindliche‹ Stimme und generationale Ordnung«?

Zwei Beiträge schließlich widmen sich sowohl den individuellen als auch den gesellschaftlichen Auswirkungen von Einrichtungen, in denen Kinder zur Welt kamen bzw. mehrere Wochen bis Monate »kuren« mussten: den SS-Entbindungsheimen »Lebensborn« und den »Kinderverschickungsheimen«, womit sie maßgeblich zur wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Institutionen beitragen.

Mit den »Gründen für und gegen die Ausweitung politischer Teilhabe auf junge Menschen«, steht natürlich auch ein genuin politologisches Sujet im Zentrum: das Wahlrecht für Kinder. Der folgenreiche Befund, dass der »Ausschluss von Kindern ein kaum zu rechtfertigendes Legitimitätsproblem für demokratische Politik konstituiert« und auf kindlicher Seite die notwendigen Kompetenzen nicht per se geringer ausfallen als bei Volljährigen, wird unterfüttert von praxisnahen Schilderungen über die »Partizipation von Kindern auf kommunaler Ebene«, die unter anderem feststellen: »Was gut für Kinder ist, ist auch gut für Erwachsene.«

Wenn also Oppositionsführer Friedrich Merz Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck das nächste Mal – »kindisches« [6] Verhalten unterstellt oder der Bundestag zum »Kindergarten« degradiert wird, wäre also (zumal angesichts der in Kindergärten heute meist geradezu vorbildlich  verinnerlichten Streitkultur) mindestens zu überlegen, ob diese Wortwahl tatsächlich als Tadel taugt – oder nicht eher als Lob zu verstehen wäre.

[1] Deutscher Bundestag, Protokoll 222. Sitzung, Bonn, 10.07.1952, S. 9854.

[2] Deutscher Bundestag, Protokoll 16. Wahlperiode, 183. Sitzung, Berlin, 16.10.2008, S. 19509.

[3] Deutscher Bundestag, Protokoll 19. Wahlperiode, 195. Sitzung, Berlin, 26.11.2020, S. 24684.

[4] Christian Gehrke, Bei »Maischberger«: Joachim Gauck nennt Helmut Schmidt „kindisch“, in: Berliner Zeitung, 10.05.2023.

[5] O. V., Linke-Chef nennt SPD »hirnlos« und »kindisch«, in: Stern, 14.06.2013.

 

[6] O. V., Nach »Nicht unsympathisch«-Urteil nennt Merz Habeck jetzt »kindisch«, in: Focus, 25.03.2023.

 

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024