»Die Schwächsten der Gesellschaft« Kinder als moralisierendes Argument in der bundespolitischen Rhetorik der 1970er bis 1990er Jahre
»Die Moralshow der Grünen mit den Kinderaugen«.[1] Unter diesem Titel kritisierte WELT-Journalist Robin Alexander 2018 eine Twitter-Kampagne. Einen Tag zuvor hatten mehrere Grünen-Politiker:innen, darunter Robert Habeck, sowie bald darauf viele weitere Twitter-User Kinderfotos von sich selbst gepostet.[2] Unter dem die Fotos begleitenden Hashtag »FamilienVereint« sollte die Botschaft transportiert werden: Wir hatten eine gute Kindheit. Dazu der Verweis auf eine am nächsten Tag anstehende Bundestagsabstimmung, bei der man sich für den Familiennachzug von Geflüchteten aus dem Ausland aussprechen wolle: »[So]dass jedes Kind in Sicherheit bei seiner Familie aufwachsen kann – so wie ich das auch konnte«, so Annalena Baerbocks Kommentar zu ihrem eigenen Kinderfoto. Die Abstimmung am nächsten Tag ging für die Grünen positiv aus – nicht so Alexanders Kommentar zu der Kampagne: »Die habecksche Kinderkampagne und die grünen Debattenbeiträge im Bundestag stellen die eigene Moral demonstrativ aus – um sie Andersdenkenden abzusprechen«, kritisierte er und ergänzte: »Die Debatte […] verkommt wieder zur Moralshow. Das ist bitter – denn nur eine sachliche Politik wird das Recht auf Asyl langfristig erhalten.«
Alexander übersetzte somit den rhetorischen Verweis auf Kinder direkt als eine Moralisierung der politischen Debatte – eine Moralisierung, die er indes nicht nur als Grünen-typisch, sondern auch als negativ brandmarkte. Doch warum ist dies so? Auch den Leser:innen dieses Beitrags mag der moralisierende Verweis auf Kinder nicht fremd erscheinen. Schließlich ist das, was im Folgenden als das »Kinderargument« bezeichnet werden soll, inzwischen so verbreitet, dass es bereits parodiert wird. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür stammt bereits aus den 1990er Jahren und ist in der US-amerikanischen Zeichentrickserie Die Simpsons zu finden, wo meist die Frau des Pfarrers bei moralisch scheinbar brisanten Themen – wie offen ausgelebter Sexualität oder dem Konsum von Alkohol – immer wieder dramatisch ausruft: »Kann nicht einmal bitte jemand an die Kinder denken?«[3]
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[2] Vgl. o. V., Deshalb kursieren gerade viele Kinderfotos auf Twitter, in: Weser Kurier, 31.01.2018, tinyurl.com/indes244r2.
[3] Beispielsweise in der Folge „Der mysteriöse Bierbaron“ (1997) der Ausschnitt ist auf YouTube abrufbar: tinyurl.com/indes244r3.
Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-4-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024