Das Ende des »Volksparteiensystems«? Warum Union und SPD an Wählergunst verloren haben
Die zu Beginn des Jahres 2024 in Umfragen erhobenen neuerlichen historischen Tiefpunkte der Zustimmung zur Politik der Bundesregierung sowie die Neu- beziehungsweise Ausgründungen der beiden Parteien »Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)« und »Werteunion« werfen die Frage auf, ob das jahrzehntelang von zwei sich selbst als Volksparteien charakterisierenden Großparteien geprägte Parteiensystem endgültig an sein Ende gekommen ist. Ein solches »Volksparteiensystem« ist gekennzeichnet durch die Dominanz von mindestens zwei Parteien, die die Integration aller – oder jedenfalls möglichst vieler – Bevölkerungsgruppen als Wähler- beziehungsweise. Mitglieder anstreben, in der Gesellschaft insbesondere auf der Ebene der Wählerschaft breit verankert sind, entsprechend hohe Wähleranteile verzeichnen, und sich mit ihren personellen und inhaltlichen Angeboten als Hauptkonkurrenten im Wettbewerb verstehen. Markieren die jüngsten Wandlungstendenzen also einen entscheidenden Kipppunkt im deutschen Parteiensystem, der auf eine unumkehrbare Tendenz hinweist?
Titel der Parteienliteratur der Vergangenheit zeugen davon, dass eine solche Frage keineswegs erstmals gestellt wird.[1] Die Rede von der Krise der Parteiendemokratie ist fast so alt wie die Bundesrepublik selbst, jedenfalls seit den 1970er Jahren immer wieder mal mehr, mal weniger intensiv thematisiert worden. Doch ist nun der Zeitpunkt gekommen, der den endgültigen Abschied vom gewohnten Parteienwettbewerb in Deutschland bedeutet? Angesichts der zunehmenden Fragmentierung und Polarisierung des Parteienwettbewerbs sowie spürbar erhöhter Volatilität im Wählerverhalten in Verbindungmit einer erheblichen Zunahme von Wechselwählern scheinen jedenfalls Fragen nach der Stabilität und Regierbarkeit der deutschen Parteiendemokratie aktueller denn je. Befinden wir uns in einer grundlegenden Umbruchphase des Parteienwettbewerbs? Weicht der moderate Pluralismus der bundesdeutschen Vergangenheit einem polarisierten Pluralismus à la Weimar?[2]
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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H.1-2-2024 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2024