Lob des Stückwerks Plädoyer für ein Europa ungleichzeitiger Vielfalt

Von Thomas Schmid

Sie sind Zeitgenossen: der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi, der das Töten von Christen propagiert und für eine gute Sache hält, und der israelische Philosoph Avishai Margalit, der ein Leben lang darüber nachgedacht hat, wie ein respektvolles Zusammenleben aller Menschen möglich sei. Jean-Claude Juncker, Martin Mosebach, Angela Merkel, Martha Argerich, Anders Breivik, Jonathan Franzen, Mark Zuckerberg, Ozzy Osbourne, Recep Tayyip Erdogan, Christian Lindner, Marine Le Pen, Neo Rauch, Andrzej Stasiuk, Nicola Leibinger-Kammüller: Sie alle verbindet, dass sie Zeitgenossen sind, dass sie zur selben Zeit leben.

Ungleichzeitigkeit: Banalität und Weitsicht

Man muss eine solche – ins Unendliche verlängerbare – Liste zusammenstellen, um unmittelbar zu verstehen, dass die Formel von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« erst einmal nicht viel besagt, ja die Banalität streift. Jede denkbare Zeit wird von Menschen bevölkert, die nicht zusammenpassen und in diesem Sinne nicht gleichzeitig sind. Weder die Menschheit insgesamt noch einzelne Nationen, ja nicht einmal einzelne Schichten und soziale Milieus kann man sich als Kollektive denken, die in einer Frontlinie marschieren, das gleiche Gepäck tragen und dasselbe empfinden und denken. Es gibt keinen Weltgeist, der alle nach seinem Bilde formen und prägen würde. Und obwohl seit etwa 200 Jahren ein Prozess der technologischen Erneuerung mit eiserner Macht über den Globus fegt, der allen ähnliche technische Geräte zur Kommunikation, zum Produzieren, zum Kochen, zum Sport und zum Töten in die Hände gibt, hat das die Menschen in ihrem Denken und in ihrem Bewusstsein keineswegs vereinheitlicht. […]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Sonderheft-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016