Fortschrittsglaube contra Nostalgie Welcher Zeit gehört die Gegenwart an?

Von Jürgen Kaube

Wer von einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« spricht, nimmt zwei Zeitbegriffe in Anspruch. Einerseits gibt es für ihn Zeit, die mit der Uhr gemessen und nach dem Kalender eingeteilt wird. Auf diese kalendarische Zeit bezieht sich bspw. die Konstruktion von Epochen auch dann noch, wenn sie von langen Jahrhunderten spricht. Andererseits sollen Sachverhalte, die nach solchen Messungen und im Rahmen solcher Epocheneinteilungen gleichzeitig sind, trotzdem verschiedenen Zeiten angehören können. Chronologie und historische Zeit wären demnach nicht deckungsgleich.[1] Zur Feststellung von gleichzeitig Ungleichzeitigem bedarf es, mit anderen Worten, eines geschichtsphilosophischen Schemas, das festlegt, was an der Zeit wäre, und darauf bezogener Abweichungserfahrungen an Sachverhalten, die ebenfalls einen zeitlichen Index haben. Don Quijote lebt zwar in der Neuzeit, gehört aber seinen Einstellungen und Erwartungen nach dem Mittelalter an; das moderne Großbritannien ist eine Monarchie, aber die Monarchie ist nicht modern; die Kämpfer des »Islamischen Staates« streben die Rückkehr eines von ihnen imaginierten ursprünglichen Kalifats an, zu dem gehört, die Moderne abzulehnen. […]

Anmerkungen:

[1] Siehe Jörn Leonhard, Historik der Ungleichzeitigkeit. Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa des 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern History, Jg. 7 (2009), H. 2, S. 144–167, hier S. 166. Umfassend zum Topos: Achim Landwehr, Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, in: Historische Zeitschrift, Bd. 295 (2012), S. 1–34.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Sonderheft-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016