Der Kampf um Platz Zwei Das deutschen Parteiensystem im Wandel

Von Lothar Probst

Bis Anfang der 1980er Jahre galt das deutsche Parteiensystem als hyperstabil. Das lag vor allem an der integrativen Stärke der Volksparteien, die unterschiedliche Milieus binden konnten. Außerdem war im sogenannten Zweieinhalb- Parteiensystem der ersten Jahrzehnte nicht nur die Fragmentierung gering, darüber hinaus war die ideologische Polarisierung moderat und die Koalitionsfähigkeit von Union, SPD und FDP untereinander groß. Vergleicht man diese goldenen Jahre des Parteiensystems mit der Lage nach der letzten Bundestagswahl, wird das ganze Ausmaß der Erosion der alten Konstellationen deutlich. Das Parteiensystem hat sich von einem moderaten Pluralismus mit zentripetaler Tendenz zu einem polarisierten Pluralismus mit zentrifugaler Tendenz entwickelt. Ein Kennzeichen dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass die sogenannte Zweiparteiendominanz, die sich darin ausdrückt, dass die beiden größten Parteien (wobei CDU und CSU wie eine Partei gezählt werden), die bis weit in die 2000er Jahre bei jeder Bundestagswahl mehr als zwei Drittel aller Mandate erringen konnten – also selbst noch zu Zeiten, als bereits die Grünen und die PDS bzw. die Linke in den Bundestag eingezogen waren –, zerbröselt ist. 2009 und 2017 konnten die Volksparteien diese Marke nicht mehr erreichen, bei der letzten Bundestagswahl erzielten sie sogar nur noch 56,2 Prozent der Mandate.

Mit Blick auf die Entwicklung in anderen westeuropäischen Ländern liegt es nahe, von einer Europäisierung des deutschen Parteiensystems zu sprechen, zumal sich mit der AfD, wie es scheint, auch in Deutschland eine rechtspopulistische Partei im Parteiensystem etabliert hat. So sehr sich die Entwicklungen hier und da ähneln, so falsch wäre es aber, daraus eine einheitliche Tendenz abzuleiten und den Wandel der Parteiensysteme vor allem auf sozialstrukturelle Veränderungen in den Wählerschaften der meisten westeuropäischen Länder zurückzuführen. Natürlich haben gesellschaftliche Modernisierungsprozesse zu einer Erosion traditioneller Milieus, aus denen vor allem die Volksparteien schöpfen konnten, und zu einer Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen beigetragen, aber der Wandel muss in den Kontext der institutionellen und politisch-kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Länder eingeordnet werden. [...]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201