»Man muss sich angegriffen fühlen« Ein Gespräch mit Harald Welzer über Widerstand, Autonomie und Klimawandel

Interview mit Harald Welzer

Am heutigen Tag findet die Weltklimakonferenz statt. Der einstige Musterschüler Deutschland scheitert krachend an seinen nicht einmal sonderlich ambitionierten Klimaschutzzielen, der Dieselskandal bleibt akut, wirksame Klimaschutzmaßnahmen wie die Besteuerung von Flugbenzin bleiben ein Tabu. Kurz: Die deutsche Klimapolitik gleicht einer Mischung aus Ignoranz und Verweigerung. Zeit, Widerstand zu leisten?

Zeit, Widerstand zu leisten, ja. Aber in diesem speziellen, eher auf Deutschland bezogenen Themenzusammenhang hieße das auch Widerstand gegen sich selbst leisten zu müssen, das Gesellschaftsmodell, von dem man selbst profitiert, aufzukündigen, kurz: »vor dem eigenen Kamin zu demonstrieren«, wie es ein Grünen-Politiker einst auf den Punkt brachte. Das aber wirft die historisch interessante und äußerst ernsthafte Frage auf: Hat es eigentlich schon Protestformen gegeben, die sich selbst adressieren? Denn im Grunde genommen ist das Thema Klimawandel, insbesondere in Gestalt der Weltklimakonferenzen, eine Geisterdiskussion: 25.000 Personen, die über die Reduzierung von Treibhausgasen diskutieren, aber das Thema Wachstumswirtschaft ebenso wenig tangieren wie jene, die Sie in Ihrer Eingangsfrage aufgeworfen haben. Und dies gilt eben auch für die deutsche Debatte: Ein Tempolimit auf Autobahnen bleibt indiskutabel, zeitgleich boomen Kreuzfahrten und Flugverkehr. Das ist eine Groteske, die in einer stillschweigenden Komplizenschaft aller Beteiligten stattfindet. Jeder findet den Klimawandel besorgniserregend, aber solange die elementaren Lebensgrundlagen nur in fernen Ländern verschwinden, folgt nichts daraus.

Gilt in Anbetracht dessen das »Prinzip Verantwortung«, das noch Anfang der 1980er Jahre diskutiert wurde, nicht mehr?

Das Prinzip der Fernstenliebe funktioniert mit Sicherheit nicht, kann es psychologisch auch gar nicht. Natürlich sind wir in der Lage, in gewissen Größenordnungen empathisch zu reagieren; aber grundlegend altruistisch zu handeln oder Empathie für die gesamte Menschheit zu entwickeln, scheint mir ein unrealistischer Wunsch. Er ist aber auch nur ein Teil des Problems. Das wirkliche Problem besteht meines Erachtens in der Parallelität zweier völlig konträrer Entwicklungen. Auf der einen Seite sehen wir, wie sich Wachstumswirtschaft und die daran gekoppelten Lebensstile in einer atemberaubenden Geschwindigkeit globalisieren und das Problem Klimawandel eskalieren lassen. Und auf der anderen Seite finden diese Konferenzen statt, auf denen auf kafkaeske Art und Weise das Gegenteil entweder vollkommen unverbindlich postuliert oder in ferne Zukünfte verlagert wird. Die Frage nach Verantwortung taucht dagegen kategorial überhaupt nicht auf, kommt gerade noch an den Stellen zum Tragen, wo es um Kompensationen für Klimaanstrengungen der armen Länder geht. Aber erstens werden diese dann nicht gewährt. Und zweitens müssen diese Länder doch gar nicht sparen, weil deren CO2-Ausstoß ohnehin sehr gering ist.

Wenn wir jetzt auf die eben benannten Lebensstile und gleichzeitig das Agieren im Rahmen der Weltklimakonferenz schauen: Wer wäre an der Reihe und in der Position, wirklich Widerstand zu leisten?

Als allererstes diejenigen, die das geringste Interesse daran haben, also die reichen Länder. Das mutet verrückt an, aber natürlich wären die frühindustrialisierten Gesellschaften, die den Klimawandel überhaupt hervorgerufen haben und bis heute von den dahinterstehenden Prozessen am meisten profitieren, schon moralisch in der Pflicht, etwas zu tun. Aber Klimapolitik basiert nun mal nicht auf Moralvorstellungen.

Aber vieles in der Debatte um konkretes Handeln basiert durchaus auch auf moralischen Maximen, die im Alltag konsequente Handlungsstrategien empfehlen. Sie selbst haben einiges beschrieben, Gleiches gilt etwa für den Ökonomen Niko Paech. Aber scheitert der gesellschaftliche Umbruch nicht auch am Konflikt zwischen Alten und Jungen, zwischen automobiler Wirtschaftswundergeneration und neuer ökologischer Empfindsamkeit?

Das glaube ich nicht, gerade nicht in Hinblick auf das Mobilitätsverhalten. Es mag sein, dass die junge Generation weniger Auto fährt, dafür fliegt sie umso mehr. Da wird vielmehr, wie der Wiener Politologe Ulrich Brand sagen würde, eine Ausprägung imperialer Lebensweise gegen eine andere ausgetauscht. Und auch im Umfeld von Gemeinwohlökonomie, Urban Gardening und ähnlichen Geprägen sind die Älteren überproportional vertreten. Erfreut bin ich aber, dass im Postwachstumsdiskurs die Jüngeren überwiegen. Aber dass es einen manifesten Anteil bei den unter Dreißigjährigen gibt, die jetzt einen ganz anderen Lebensstil favorisieren, stimmt ja leider nicht.

Wenn wir nun nach China blicken, weltweit größter CO2-Emittent, auch, weil dort Waren für die ganze Welt produziert werden, sieht man ein Top-down-Vorgehen gegen den Klimawandel. Wäre eine Art »Ökodiktatur« die bessere, weil wirksamere Lösung?

Da bin ich der falsche Adressat. Schließlich kippen die Ökodiktaturvorstellungen allzu häufig das Kind mit dem Bade aus. Also, wenn die letzte Konsequenz heißt, Kinder seien im Hinblick auf CO2-Emissionen ein ernsthaftes Problem, würde ich den Klimawandel dann doch vorziehen. Ich will die Diskussion auch ganz grundsätzlich anders führen, als sie im Postwachstums- oder Klimawandeldiskursumfeld geführt wird. Für mich ist die entscheidende Kategorie die eines zivilisatorischen Niveaus, welches Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die zentralen Versorgungsfragen mindestens versucht zu realisieren. Die westlichen liberalen Demokratien haben das bis zu einem gewissen Maße auch geschafft – aber um den Preis eines zerstörerischen Naturverhältnisses. Daher sage ich, die Frage, die wir im 21. Jahrhundert schnellstmöglich zu beantworten haben, lautet: Wie kann ich den zivilisatorischen Standard halten auf der Grundlage eines völlig anderen Naturverhältnisses, sprich einer anderen Form des Wirtschaftens und was muss ich dafür beim Metabolismus verändern? Die Konsequenz daraus kann nur sein, alles spürbar herunterzufahren und dabei neu zu kombinieren – etwa die Nutzung erneuerbarer Energien mit weniger Konsum, anderen Formen des Wohnens, des Arbeitens, der Mobilität usw. zusammenzudenken. Dafür gibt es keinen Masterplan und kein Rezept. Aber es beschreibt zumindest eine Richtung, aus der sich dann auch ein konkreter Ansatzpunkt für Widerstand speist, einer der sich diesbezüglich eher aus Gerechtigkeitsvorstellungen ableitet als aus abstrakten Erwägungen. Bei Niko Paech bspw. ist es hingegen umgekehrt: Paech ist so wissenschaftsgläubig, dass er in der Konsequenz auch daran glaubt, Berechnungen der Klimawissenschaftler ohne Abstriche in die soziale Welt umsetzen zu können und zu müssen. Das aber ist im Kern totalitär und führt in letzter Konsequenz zur Erkenntnis, dass man den Menschen abschaffen müsste …

Ein schreckliches Szenario …!

Ja, aber die dahinterstehende Logik ist so brutal. Was viele, die nicht aus der Sozial- oder Geschichtswissenschaft kommen, nicht verstehen können oder wollen, ist die simple Einsicht, dass sich naturwissenschaftliche Befunde nicht ohne Weiteres in soziale Prozesse übertragen lassen. Dort, wo das versucht wurde, endete es für nicht Wenige im Gefängnis. Oder noch drastischer formuliert: Das endet immer im Massenmord.

In Ihrer jüngsten Publikation haben sie Autonomie als eine Fähigkeit, nach eigenen Prinzipien zu handeln, gefasst. Diese Prinzipien sind ein wichtiger Teil des Widerstandes. Was befördert diese Ausbildung von eigenen Prinzipien? Wie kann man eine Gesellschaft gestalten, die Raum für eigene Prinzipien zulässt?

Das ist letztlich eine Frage, die paradoxal ist. Es wäre wichtig, jungen Menschen abweichendes Verhalten beizubringen, etwa in der Schule, die aber nun mal auf das Gegenteil ausgelegt ist. Dennoch ist es nie zu früh für die Erkenntnis, dass es nahezu immer Handlungsspielräume gibt, dass Regeln hinterfragbar sind, dass Gewohnheiten und Erfahrungswissen irren oder zumindest ihre überzeitliche Geltung verlieren können. Es ist ein hoch emanzipativer Akt, Spielräume zu erkennen und zu testen, wie weit diese sich dehnen lassen. Empirisch betrachtet, ist es auch eine der wesentlichen Fähigkeiten von Menschen, die sich abweichend verhalten oder widerständig verhalten, dass sie Spielräume sehen können. Wohl jede Widerstandshandlung operiert mit dem Auslegen von Spielraum. Wenn ich, umgekehrt, keinen Handlungsspielraum habe, kann ich auch keinen Widerstand leisten. Problematisch ist deshalb, dass derzeit das Ausmaß an Fremdsteuerung wieder größer und die individuell wahrgenommenen Handlungsspielräume wieder enger werden. Etwas anekdotisch formuliert: Menschen glauben heute nicht selten, sie wären verloren, gingen sie ohne Handy aus der Tür, können den dazugehörigen Autonomieverlust aber nicht sehen. Insofern läuft es im Moment nicht so richtig gut in Sachen Autonomie.

Einen Blick allenfalls für Spielräume und Grenzen bedeutet aber zugleich, nur Facetten des Systems zu ändern, nicht aber selbiges grundsätzlich zu verlassen oder zu überwinden?

Ganz grundsätzlich, ich bewege mich prinzipiell nie außerhalb eines Systems. Es wäre ja Hybris zu glauben, aus jedwedem System einfach aussteigen zu können, auch deswegen Hybris, weil vieles von diesem Systemischen fest in einem verankert ist, einem der Außenblick verstellt ist. Das beginnt schon bei dem Rahmen der Problemwahrnehmung und -beschreibung. Aber ich würde sagen, dass in der offenen Gesellschaft die Auslegungsspielräume am breitesten sind. Mit der Problematik, dass wahrgenommene Widerstände auch als manifeste Widerstände gedeutet werden können; und dem Übersehen der Tatsache, dass Widerstand in solchen Gesellschaften auch keinen sehr hohen Preis hat. Deshalb ist das Gerede von »Mut« und »Mutbürgern« Unfug. Mut braucht man in autoritären Gesellschaften, nicht in offenen.

Wir-haben-es-satt-Demos, der Kampf um den Hambacher Forst, »Ende Gelände«, eine lange ökologische Ideengeschichte mindestens seit der Lebensreform auf der einen Seite und ein selbst weit in konservative Kreise hereinragendes Unbehagen an Beschleunigung und Modernisierung auf der anderen Seite: Trotzdem schaffen es ökologische Themen kaum, die Aufmerksamkeitsschwelle zu überwinden. Wenn aber in Dresden regelmäßig ein paar Tausend Rechte marschieren, verändert das die ganze Politik. Was läuft da schief?

Vieles. Aber die verändern die ganze Politik deswegen, weil die Medien das Problem sind und nicht die paar Tausend Rechten. Aber das ist noch mal ein Thema an anderer Stelle. Das Problem bei der Ökobewegung ist, glaube ich, nicht minder dramatisch, nämlich, dass sie längst eingepreist ist. Natürlich ist die Ökologiebewegung eine erfolgreiche Modernisierungsbewegung gewesen. Aber der auch institutionelle Erfolg, denken Sie nur an die grüne Partei, hat den Eindruck manifest werden lassen, die Inhalte der Ökologiebewegung seien scheinbar überallhin diffundiert, in alle gesellschaftlichen Bereiche. Anders gesagt: Der Stachel ist weg aus den Geschichten. Und der zweite Punkt ist: Die aktive Avantgarde der Bewegung ist eher geprägt von subkultureller Radikalität, von sozusagen supergrünen Grünen oder superökologischen Ökos mit dem entsprechenden, wenig anschlussfähigen, Habitus. Das hat dann natürlich auch als Subkultur seinen Stellenwert, der ist aber nicht gesellschaftsverändernd. Und der letzte Punkt, der sicher mit der genannten Entwicklung zusammenhängt, aber auch eine Krisendiagnose ist, ergibt sich aus der Veränderung des Ökologiediskurses selbst. Am Anfang sehr stark und durchaus radikal auf Gesellschaft bezogen, ist die ökologische Debatte heute vor allem eine instrumentelle, in deren Mittelpunkt technologische Lösungen stehen, was im Umkehrschluss heißt, dass die Ökologiebewegung Frieden mit dem System geschlossen hat. Das offensichtliche Ergebnis dieser Verschiebung haben wir schon angerissen: Diese Form von Klimakonferenzen, die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Fragen systematisch ausklammert. Das zusammen beschreibt das Dilemma der Ökobewegung.

Das Interview führten Michael Lühmann und Marika Przybilla-Voß

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018