Großes, linkes Kino The Wire als Porträt des Oben und Unten US-amerikanischer Politik

Von David Bebnowski

Die selbstverständliche und an keinerlei ethische Grenzen gebundene Übertragbarkeit der ökonomischen Rationalität auf alle Lebensbereiche führt dazu, dass sich im vom allgegenwärtigen Drogenhandel dominierten Baltimore, in den düsteren Straßenzügen mit all ihren Broken Windows, eine alternative Wertehierarchie etabliert, in der es eben „ganz normal“ ist, im Drogenbusiness zu arbeiten. Selbstverständlich bezeichnen selbst die „soldiers“ – die auf Geheiß der Bosse Mordenden – ihr Tagewerk als „line of work“, eine amerikanische Entsprechung des deutschen Berufs. Dies indes sollte nicht zu sehr verwundern: Denn die Drogenindustrie Baltimores sorgt – anders als die chronisch klamme und blockierte offizielle Politik – dafür, dass ein komplettes und rentables Geschäftsfeld entsteht. Manager kontrollieren ein Wirtschaftsimperium, das Posten im Import- und Exportgeschäft und auf mittleren Verwaltungsebenen bereitstellt, bis schließlich auf der Straße Dienstleistungsjobs – gewissermaßen einfache Arbeiten, unskilled labour – im Verkauf der Ware entstehen.
The Wire – ganz stadtsoziologisches Porträt – zeigt, wie all dies in einer globalisierten Ökonomie, in der Arbeitsangebote für die industrielle working class ausgelagert und in andere Staaten verschoben werden, aus den Projects in andere Bereiche der Stadt schwappt. Rührend und – man denke an das veränderte Stadtbild Hamburgs – auch in Deutschland ein aktuelles Thema, ist der hoffnungslose Kampf des Führers der Dockarbeitergewerkschaft, Frank Sobotka, gegen die Gentrifizierung der Hafenanlagen. Um seinen Kollegen eine Zukunft als „Longshoremen“ garantieren zu können, muss die Umwandlung eines Kais mitsamt Getreidespeicher in einen Wohn- und Repräsentationskomplex gestoppt werden. Da Sobotkas Gewerkschaft selbst kaum mehr über die Mittel verfügt, Druck auf die organisierten politischen Interessen auszuüben, lässt auch er sich mit Drogen- und Menschenhändlern ein. Mit den Extraeinnahmen für den Import ihrer Waren bezahlt er Lobbyisten für seine Sache. Überzeugt davon, für die Sache zu kämpfen, merkt Sobotka nicht, dass er die jüngeren Dockarbeiter mit der Nase auf alternative Einnahmequellen stößt, immer stärker schlagen sein Sohn und sein Neffe selbst Profit aus Drogengeschäften.
In einem eindrücklichen Dialog zwischen Sobotkas Neffen Nick und einem weißen Drogendealer manifestiert sich dabei die Verheerung der postindustriellen, ungebremsten Wettbewerbsgesellschaft. Nick hält dem im Stil eines Gangsta-Rappers sprechenden weißen Drogendealer Frog gegenüber lapidar fest: „you happen to be white“ und konfrontiert ihn mit einer gemeinsamen Sozialisation in den von polnischen Einwanderern geprägten industriellen Hafenvierteln Baltimores. In dieser Szene wird das Zerreißen solidarischer Bande in den einstmals stolzen Quartieren der industriellen Arbeiterklasse gewissermaßen in Form einer Kolonisierung durch die Drogenökonomie ersetzt. Auf das Feld ethnischer Grenzlinien – black vs. white – übertragen, wird dies symbolisiert durch die Gegenüberstellung des Gangsta-Chic tragenden und in tiefstem Ebonics sprechenden Dealers Frog und des in Flanellhemd und Arbeiterschuhen auftretenden Blue-Collar-Workers Nick. Die Politik in der verwundeten Post-Industriestadt Baltimore missachtet traurigerweise jene Klasse, die die Stadt zu ihrer alten Größe geführt hat.

It’s all in the game

„It’s all in the game“ – so funktioniert das Spiel eben –, dieser Spruch be-gegnet den Zuschauern in The Wire in jeder Staffel. Mantrahaft vorgetragen wird er vor allem von den Drogendealern zur Erklärung, möglicherweise auch zur inneren Rechtfertigung von „drug-related murders“, wie es im US-Amtsenglisch heißt. So ist es eben, soll das heißen, wer schlecht über einen Drogenboss redet, wessen Abrechnungen nicht stimmen, wer Gefahr läuft, zum Belastungszeugen zu werden, wird die Folgen, die er oder sie vorher kannte – es sind schließlich die Spielregeln – zu spüren bekommen.
Kann man auf einen Begriff bringen, was es ist, das die Regeln des Spiels konstituiert? Man kann. The Wire erzählt auf allen Ebenen, von der großen Politik über die Ebenen der chain of command bis hin zu den Drogendealern und -süchtigen, die Story von Menschen, die sich einem Überlebenskampf ausgesetzt sehen. Eine „dog-eat-dog-world“ würde man all dies wohl in den USA nennen. Und selbstverständlich ist der Kampf, der hier ausgefochten wird, der um das physische, psychische und moralische Überleben von Menschen im Kapitalismus. Überall, in jeder Stufe der Serie, drückt sich die unerbittliche Logik (ökonomischer) Wettbewerbsbeziehungen als strukturierendes Prinzip aus, wird, auf den eigenen Vorteil bedacht, entlang der Maxime gehandelt: „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht“.
The Wire erinnert dabei durch seinen schmerzhaften Hyperrealismus eindrücklich an das Grundprinzip der Vergesellschaftung im Laissez-Faire des Kapitalismus. Auf jegliche moralische Erhöhung verzichtend, wird dies gerade in der detailliert aufgefächerten Darstellung der Zusammenhänge in der Drogenökonomie deutlich. Das Garn, aus dem das Netz gesellschaftlicher Strukturen gesponnen wird – das zeigt sich bei all denen, die gegen den Abstieg oder für ein kleines Bisschen vom Aufstieg kämpfen – ist der Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Sind die Kräfte des freien Marktes einmal von der Kette gelassen – das zeigt The Wire, das zeigt auch Baltimore insgesamt als stellvertretendes Beispiel einer maroden Industriestadt in den USA des 21. Jahrhunderts – entwickelt sich von hier aus hinter dem Rücken liebenswertester Menschen ein Gemeinwesen, das diesen Namen nicht mehr verdient.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014