»Eine veränderte Form der Subjektivität im Kontext des Politischen« Ein Gespräch mit Wolfgang Kraushaar über Bewegungen, Organisation und Bedingungen des politischen Erfolgs

Interview mit Wolfgang Kraushaar

Bei dem Kürzel »APO«, das auch den Titel dieser Indes schmückt, denkt man unwillkürlich an die Außerparlamentarische Opposition der 1960er Jahre. Und tatsächlich haben wir es in Deutschland, in Europa und weltweit in den letz­ten Jahren wieder mit vielfältigen Veto-Artikulationen und nicht-parlamentari­schen Oppositionen zu tun, bei denen sich allerdings die Frage stellt, ob sie unter einem Begriffssingular wie »Opposition« überhaupt zusammenzufassen sind. Herr Kraushaar: Was verstehen Sie unter dem Begriff »Opposition«? Und wel­chen Ort schreiben Sie Opposition in der Demokratie zu?

Der Begriff der Opposition bedingt die, wie ich finde, zwingende Unter­scheidung zwischen einer parlamentarischen Form der Opposition zum einen und einer außerparlamentarischen Opposition zum anderen, die ihrerseits beides umfassen kann: eine Rückwendung im Sinne einer Erneuerung der geschwächten innerparlamentarischen Opposition, aber auch das Gegenteil davon, nämlich die Hinwendung zur Fundamentalopposition. Es ist bezeich­nend, dass in Reaktion auf die zur Chiffre gewordene 68er-Bewegung sei­nerzeit eine unglaubliche Flut an Artikeln von Politikwissenschaftlern zum Sinn und Zweck des Begriffs der Opposition produziert worden war. Hierin artikulierten sich auch Bestrebungen, das Außerparlamentarisch-Oppositio­nelle der fundamental systemkritischen Teile der APO abzuwehren. Ein Re­sultat des systematischen Nachdenkens über Opposition ist etwa die Publi­kation »Die Rolle der Opposition der Bundesrepublik Deutschland« gewesen, an der sich alle damals maßgeblichen Politikwissenschaftler beteiligt haben, von Wilhelm Hennis über Carlo Schmid und Eugen Kogon bis hin zu Otto Kirchheimer. Einige dieser Politikwissenschaftler waren der Ansicht, dass der Begriff der Opposition wesensmäßig an das Parlament gebunden sei, und zwar als Antibegriff zur Regierung, weshalb es bei Lichte betrachtet eigent­lich gar keine außerparlamentarische Opposition geben könne.

Über solche Bestimmungsversuche geht die im Nahhinein als 68er-Bewe­gung bezeichnete Studentenbewegung hinaus. Sie ist ja nicht nur eine Stu­dentenbewegung gewesen, heute spricht man natürlich ganz zu Recht von einer Studierendenbewegung, die in ihrer Mehrheit außerparlamentarisch orientiert war und die Erneuerung der innerparlamentarisch geschwächten Opposition anstrebte. Denn das Phänomen APO hatte sich ja unter den Rah­menbedingungen der Großen Koalition konstituiert, also des ersten Elefanten­bündnisses, das die CDU/CSU und SPD im Dezember 1966 auf Bundesebene eingegangen waren. Studentische Gruppen wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) wollten diese außerparlamentarische Bewegung nun nutzen, um die parlamentarische Demokratie durch eine Rätedemokratie zu ersetzen. Sie waren der Überzeugung, dass es unter den Voraussetzungen des Kapitalismus keine wirkliche Demokratie geben könne. Diese Position wurde in der damaligen APO durch eine Minderheit mit Wortführerqualität vertreten und eine Zeit lang dadurch umzusetzen versucht, indem man eine große Debatte über die Ersetzung der Parlamente durch Räte initiierte. Sie führte aber zu keinen Konkretionen, sondern bestenfalls dazu, dass in der Folge ein eher vages basisdemokratisches Modell propagiert wurde, das sich im Januar 1980 noch in der Gründung der Partei der Grünen niederschlug, welche bekanntlich die Basisdemokratie als eine von vier Grundsatzzielen verfolgte. Insgesamt ist es also wichtig, einerseits zwischen einem Innen und Außen der Opposition zum Parlamentarismus zu unterscheiden und ande­rerseits, was die außerparlamentarische Seite von Opposition anbelangt, zu unterscheiden zwischen denjenigen, die letztlich nur auf Umwegen die inner­parlamentarische Position stärken wollen, und jenen, die gar kein Interesse an dieser Stärkung hatten, sondern welche die repräsentative Demokratie als solche durch eine Form der Basisdemokratie – sei es in Gestalt der Räte­demokratie oder einem anderen Modell – ersetzen wollten.

Aktuell regiert wieder eine Große Koalition. Gleichzeitig existiert aber mit den Grünen, der AfD, der Linkspartei und der FDP eine starke innerparlamentarische Opposition. Eine außerparlamentarische Opposition kann also heute schwer­lich auf dem Motiv gründen, dass es innerparlamentarisch faktisch keine Mög­lichkeit zur Opposition gebe. Eine ernsthaft systemüberwindende Position zeigt sich, man betrachte bspw. die Fridays for Future, aber eigentlich auch nicht. Ist es vor dem Hintergrund des eben Skizzierten überhaupt möglich, noch von einer APO zu sprechen?

Ich hätte keine Schwierigkeiten, die aktuellen Bewegungen und insbeson­dere die Fridays for Future als eine Form der außerparlamentarischen Op­position des Jahres 2019 zu charakterisieren. Die derzeitige Große Koalition unterscheidet sich allerdings in der Tat maßgeblich von der Großen Koalition am Ende der 1960er Jahre. Sie ist, wenn man so will, durch eine Art Kollateral­schaden mitgeprägt, der darin besteht, dass der Aufschwung der rechtspopu­listischen Kräfte und der Einzug von knapp einhundert AfD-Abgeordneten 2017 in den Bundestag eine Exekutivfindungskrise mit sich brachten und die zunächst angestrebte Jamaikakoalition nicht zustande kam. Diese Krise schwelt durch die Neuauflage der vorhergehenden Großen Koalition und die Identitäts­probleme der SPD fort. Wir haben mithin keine Große Koalition in der Form, wie es sie zwischen 1966 und 1969 gegeben hat. Dafür spricht schon allein die gestiegene Anzahl der Parteien und deren Bedeutung. Aber es gibt noch etwas Wichtigeres, was man als Differenz herausstreichen muss, nämlich die Tatsache, dass die NPD 1969 bei den Bundestagswahlen knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, während es der AfD 2017 doch sehr deutlich gelungen ist, in den Bundestag einzuziehen. Das hat die Verhältnisse verändert.

Insofern besteht die Notwendigkeit, den Begriff der Opposition anders zu positionieren, als es damals im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen der APO und der Großen Koalition der Fall gewesen ist. Die damalige He­rausforderung für die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik bestand darin, dass die CDU schon während der Adenauer-Ära die Notwen­digkeit sah, für einen Notstand Vorsorge treffen zu müssen und deshalb Not­standsgesetze zu planen. Der Union war bekannt, dass sie für die Durchset­zung dieses Gesetzespakets, das ja verfassungsändernde Implikationen besaß, eine Zweidrittelmehrheit und dafür wiederum die SPD benötigte. Durch die Bildung der Großen Koalition waren die Voraussetzungen geschaffen wor­den, dieses seit 1959/60 von dem damaligen Bundesinnenminister Gerhard Schröder vorbereitete Gesetzesprojekt umzusetzen. Das entwickelte sich schon bald zum größten innenpolitischen Konfliktthema des Jahrzehnts. Und als Oppositionspartei blieb im Bundestag schließlich nur noch die FDP übrig. Die war aber viel zu schwach, um eine effektive parlamentarische Opposition wahrnehmen zu können. Aus dieser Schwäche speiste sich ganz maßgeblich die außerparlamentarische Opposition, also die APO. Heutzutage ist das ganz anders. Wir haben ein ganzes Spektrum an oppositionellen Parteien gegen­über der Großen Koalition.

Der politische Ort der historischen APO war nicht das Parlament, sondern vor al­lem die Straße. Die Politik der Straße galt lange als Synonym für Demonstrationen und diese wurden noch in den 1960er und 1970er Jahren vielfach mit der dro­henden Herrschaft des Mobs gleichgesetzt. Etwas, wovor man Angst hatte, weil es unkontrolliert erschien, gerade weil es von unten kam und nicht von oben ge­steuert, gelenkt, kanalisiert wurde. Die APO und in deren Folge auch die Neuen Sozialen Bewegungen zeichneten sich dadurch aus, dass sie auf den Regelbruch gesetzt haben, auf Konfrontation mit den Sicherheitsbehörden und Widerstand gegen Versuche der Einhegung. Heute dagegen wirken außerparlamentarische Bewegungen eher wie die klassischen Festumzüge. Es sind kaum konfrontative Regelbrüche zu verzeichnen, entlarvende Provokationen und massenhafte He­rausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols sucht man vergeblich. Zeigt sich darin eine generell höhere Regelkonformität heutiger Jugendlicher, die sich etwa auch viel weniger dezidiert von der Elterngeneration absetzen, als das für die 68er typisch war?

Dem Urteil würde ich nur bedingt zustimmen wollen, dass es sich bei der damaligen APO um eine »Politik der Straße« gehandelt habe. Sie spre­chen ganz zu Recht von einer Diskreditierung von Protestierenden als Mob, die dabei mitschwingt. Diese Diskriminierung stammte ja ursprünglich von Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler, der immer bloß abwertend von Demonstrationen als einer »Politik der Straße« gesprochen hat. Natürlich gab es im Zuge der Dauerdemonstrationen eine vorübergehende Fixierung auf Straßen und Plätze – aber es war halt nicht nur eine »Politik der Straße«. Von Rudi Dutschke war im Übrigen schon im Oktober 1967 explizit zum »Langen Marsch durch die Institutionen« aufgerufen worden. Der grundsätzliche Vor­behalt gegenüber Formen der außerparlamentarischen Opposition hat sich inzwischen erledigt. Dennoch begleiteten die Grünen lange Zeit Vorwürfe der Art, dass sie mit dem Bundestag und dem parlamentarischen System insgesamt fremdeln würden. Dies wurde gewiss auch dadurch befördert, dass mit Petra Kelly die damalige Galionsfigur der Grünen die Auffassung vertreten hatte, dass ihre Partei eine »Anti-Parteien-Partei« sei. Heutzutage sieht es nochmal erheblich anders aus. Wenn Sie etwa an Fridays for Future denken, dann ist die Regelkonformität bei ihren Protestumzügen ja nicht zu übersehen. Anders sieht es aber schon bei Extinction Rebellion aus, welche die Klimaschutzbewegung durch direkte Aktionen aufzumischen versucht. Und wenn Sie sich an die Proteste gegen das G20-Treffen 2017 hier in Ham­burg erinnern, wo es zu zahlreichen militanten Übergriffen gekommen ist, dann haben Sie in Gestalt der Autonomen und ähnlicher Gruppierungen eine linksradikale Ausrichtung vor Augen, die in einer gewissen Kontinuität zur damaligen radikalen Linken steht. In dieser Hinsicht sehe ich jedenfalls kaum eine Differenz.

Fridays for Future, Proteste gegen die neue DSGVO, aber auch »Pegida«, kön­nen als Seismografen gesellschaftlicher Spaltungen angesehen werden, also zum Beispiel der mangelhaften parlamentarischen Repräsentation in der Be­völkerung kursierender Empfindungen, eines grassierenden Vertrauensverlus­tes der unter einen Generalverdacht gestellten Eliten, zunehmend unvereinbarer Verständnisse dessen, was Politik leisten kann und muss. Erschwerend kommt hinzu, dass die geforderte Umkehr vielleicht gar nicht mehr möglich ist, wie im Fall des Klimawandels. Ist hier also überhaupt noch ein Dialog möglich? Oder sind diese Proteste Ausdruck eines geradezu tragischen, weil letztlich durch die politischen Entscheidungsträger gar nicht korrigierbaren, Versagens der Politik?

Es spricht vieles dafür, dass der Zug bereits abgefahren ist. Zwar wird auch von Fridays for Future so argumentiert, dass es immer noch ein Zeit­fenster gebe, um die auf der Pariser Klimakonferenz von 2015 projektierten Zielgebungen zu erreichen, aber ich halte das für eine Illusion. Allerdings hat diese junge Bewegung es geschafft, den politischen Diskurs grundsätzlich zu verändern, und zwar in der Öffentlichkeit und in den Parteien wie in den Parlamenten. Man kann das vielleicht am deutlichsten an der CSU erkennen, die jetzt unter ihrem neuen Parteivorsitzenden Markus Söder geradezu den Eindruck erweckt, als wolle sie die Speerspitze der Umweltschutzbewegung bilden. Das wäre noch vor einem halben Jahr nicht denkbar gewesen! Man muss hier aber auch über Greta Thunberg als Person sprechen, welche die Bewegung initiiert hat, vor einem Jahr als eine 15-jährige Schülerin, bloß mit einer einzigen Papptafel ausgestattet und am Rindstein vor dem schwedischen Reichstag sitzend den Schulstreik für das Klima fordernd. Nun ist daraus eine internationale, ja eine globale Bewegung entstanden, die hierzulande besonders stark ist. Diese Bewegung ist außerordentlich jung, mehrheitlich weiblich und tritt in einer nachdrücklichen Weise systemimmanent auf. Sie will eigentlich nichts anderes, als dass die Politik das ernst nimmt, was die Naturwissenschaftler, die Physiker, die Meteorologen und die Klimaforscher prognostiziert und die in der UN vertretenen Staaten 2015 auf der Pariser Klimakonferenz beschlossen haben. Insofern sollen die Regierungen durch eine außerparlamentarische Bewegung dazu gezwungen, ja dazu verpflich­tet werden, nur das umzusetzen, was sie selbst im Namen ihrer Staaten be­schlossen haben. Das ist ein ebenso simpler wie kluger Ansatz. Und Greta Thunberg hat alle Versuche, sie zu diskreditieren, zu pathologisieren und zu marginalisieren, überstanden, und zwar ohne dabei die Werte zu gefährden, die sie von Anfang an vertreten hat. Das ist nicht selbstverständlich. Die Be­wegung ist dabei zu keinem einzigen Zeitpunkt Gefahr gelaufen, etwa in die Militanzfalle zu tappen.

Ich neige nicht dazu, immer gleich die Systemfrage zu stellen. Aber bei diesem Thema scheint es mir unvermeidbar zu sein, weil das, was sich als Erderwärmung angebahnt hat, gerade dabei ist, sich als Klimakatastrophe zu manifestieren. Dieses Kardinalthema lässt sich aber nicht einfach im Sinne einer Single-issue-Bewegung konterkarieren ist, wie das bei vielen anderen Protest­bewegungen der Fall gewesen ist. Denn das Klima ist ein wahres Komplexitäts­monster, in das unglaublich viele Faktoren hineinspielen wie die Verkehrspoli­tik zum Beispiel oder die Agrarpolitik und die Energiepolitik sowieso. Damit überfordert sich eine Bewegung natürlich. Ich möchte nicht missverstanden werden im Sinne des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, der ja gesagt hat, dass man solche Fragen einfach den Experten überlassen müsse. Man sollte Fragen von existenzieller Tragweite schon deshalb nicht irgendwelchen Ex­perten überlassen, weil man als politisches Subjekt, als Bürger in einer Zivil­gesellschaft, immer versuchen sollte, Antworten zu artikulieren – egal ob man in einer Partei, einer Bewegung oder sonst irgendwo aktiv ist. Der Klimawan­del ist eine der größten Herausforderungen, die es überhaupt gibt. Angesichts dieser Aufgabe schwingt aber auch die Gefahr einer Selbstüberforderung mit, welche zu einer tiefreichenden Enttäuschung führen kann, die sich zum zer­setzenden Faktor entwickelt. Fridays for Future ist es gelungen, in der gegen­wärtigen Politik und Öffentlichkeit einen folgenreichen Wandel des Diskurses über Klimafragen zu erzielen. Da hat sich viel getan und es ist auch noch kein Ende abzusehen. Mittel- und langfristig betrachtet sehe ich es jedoch geradezu als unabwendbar an, dass das von mir befürchtete Frustrationserlebnis kom­men wird. Das hängt auch damit zusammen, dass diese Bewegung für sich genommen die Systemfrage bislang nicht gestellt hat. Sie versucht ja, wie be­reits erwähnt, ganz systemimmanent voranzuschreiten, indem nur das einge­fordert wird, was zuvor auf der internationalen Ebene der Vereinten Nationen und der Staatengemeinschaft auf den Klimakonferenzen beschlossen worden ist. Greta Thunberg hat sich ganz gezielt hochrelevante Treffen ausgesucht, um ihre Stimme zu erheben. Und ihre Stimme hat ja insofern etwas Suggestives, weil sie erstens sehr jung ist, zweitens in gewisser Weise »unschuldig« wirkt und drittens ohne irgendeinen Radikalitätsüberhang fundamentale Werte ein­klagt. Sie weist lediglich in einer existenziellen Weise auf Notwendigkeiten hin, etwa durch Formulierungen wie der, dass »das Haus« bereits brenne und es eigentlich nur eine Konsequenz gebe, nämlich die Notbremse zu ziehen. All diese Metaphern, die sie benutzt hat, sprechen dafür, dass sie auch ganz per­sönlich darunter leidet, was momentan im Gange ist und was ja nicht nur ihr schier unabwendbar zu sein scheint – eine Unabwendbarkeit, gegen die sich diese junge Generation jetzt zu einem nicht unerheblichen Teil wendet.

Nun könnte man natürlich dagegenhalten, dass Enttäuschung und Desillusio­nierung kein exklusives Privileg systemimmanenter Proteste sind und auch dies­bezüglich wieder auf die historische APO verweisen. Dennoch fällt in der Tat auf, dass sich die Akteure der Fridays for Future von den unterschiedlichsten, wenn man so will, Teilbereichs-Experten erklären lassen, wie es sich mit bestimmten Problemen der Gletscherschmelze, Plastikverschmutzung der Meere, Artenster­ben, Folgen der Kohleverstromung, der Entwicklung des CO2-Ausstoßes im Autoverkehr etc. verhält, wie man Lobbyismus betreibt, die eigenen Interessen in den politischen Betrieb einspeist, mit Medien umgeht. Dabei dominieren Ein­zelaspekte, die verbindende Klammer als Grundlage einer systemtransformati­ven Strategie und Voraussetzung der Entwicklung einer gesellschaftlichen Alter­native scheint jedoch zu fehlen. Es gibt auch nicht die üblichen Intellektuellen und Gesamtvordenker, an denen sich die Bewegungen anderer Generationen zu orientieren pflegten. Ist dies ein entscheidendes Defizit dieser Bewegung, das die Gefahr ihrer Zerfaserung verschärft?

Es ist jedenfalls ein widersprüchliches Bild, das sich ergibt, wenn man die Veränderung des Diskurses über Klimapolitik mit dem Mangel an Überlegun­gen zum systemischen Stellenwert dieser politischen Veränderung vergleicht. Man kann diese Art von Widersprüchlichkeit vielleicht nicht vollständig auf­lösen, aber man kann sie nicht unerheblich reduzieren. Und ich glaube, dass das ein Ziel für Fridays for Future sollte, und zwar dergestalt, dass man be­ginnt, stärker als bisher darüber nachzudenken, welche Rolle eigentlich die Ökonomie für die verschiedenen Formen der Umweltzerstörung spielt. Dabei sollte auch schärfer als bisher unter die Lupe genommen werden, wie es sich eigentlich mit den politischen Reformprozessen verhält, die bereits in Gang gesetzt worden sind, etwa bezüglich der Reduktion von CO2-Emmissionen, der Verteuerung von Emissionen oder auch der Mehrwertsteuererhöhung für Fleischprodukte. Zudem wäre es nötig, sich strukturierter darüber Gedan­ken zu machen, was damit eigentlich im Sinne einer Gesamtverfolgung ihres Zieles, eine Versöhnung von Gesellschaft, Ökonomie und Natur erreichen zu wollen, auch tatsächlich geleistet werden kann. Insofern ist es notwendig, die verschiedenen systemischen und strukturellen Aspekte der gesellschaft­lichen Ökonomie, sei es der Finanzökonomie, sei es des ökonomischen Stel­lenwerts bestimmter Produktionszweige u. a., dahingehend zu untersuchen, welche Veränderungspotenziale in ihnen stecken. Dieses ganze Feld kommt in den Überlegungen von Fridays for Future zu kurz. Es geht ja nicht unbe­dingt um einen Systemumsturz, aber mir fehlt die systemische, strukturie­rende, analytische Kraft. Ich vermisse einen theoretischen Exponenten, der wie Herbert Marcuse mit seiner Analyse des eindimensionalen Menschen die Möglichkeiten einer außerparlamentarischen Opposition grundsätzlich vorweggedacht hat. So jemanden gab es auf die neuere Zeit übertragen viel­leicht noch mit Stéphane Hessel im Rahmen der Occupy-Bewegung. Heute gibt es vielleicht noch Jean Ziegler, der gerade ein Buch herausgebracht hat, in dem er die kapitalismuskritischen Fragen seiner Enkelin zu beantworten versucht. Aber eigentlich gibt es keinen Theoretiker mehr, der als Vorden­ker einer solchen Bewegung dienen könnte. Vielleicht spielt dabei auch eine Rolle, dass Fridays for Future sich auch als ein generationsspezifisches Pro­jekt versteht und häufig schon die über 25-Jährigen bereits schräg angese­hen werden. Früher gab es ja den Slogan »Traue niemandem über dreißig«. Der stammt schon aus dem Jahre 1964, genauer: aus der Studentenrevolte an der Universität Berkeley. Diese Einstellung zeigt sich nun in radikalisier­ter Form. Ich habe vor einem halben Jahr einen Artikel zu Fridays for Future geschrieben, in dem der Satz vorkommt: »Traue niemandem über 17«. Das impliziert eine starke Abgrenzung gegenüber den älteren Generationen. Einer­seits vermittelt oder verschafft das dieser Bewegung enorme Vorzüge – die­ses Jugendliche, Frische, die Emphase, z. T. vielleicht auch der Eindruck des Unbedarften. Das scheint mir von der Öffentlichkeit z. T. auch falsch einge­schätzt zu werden – denn in Wirklichkeit sind viele der Aktivisten nicht nur sehr artikulationsfähig, sondern auch außergewöhnlich reflexionsfähig. Sie sind nicht als reaktiv oder wie auch immer eindimensional einzuschätzen. Sie verstehen durchaus etwas von ihrer Sache. Ich habe sehr viele Redner im Rahmen der Fridays-for-Future-Bewegung und noch mehr Rednerinnen erlebt, die sich wirklich trefflich artikulieren können und dazu in der Lage sind, zu argumentieren. Da muss man sagen: Chapeau! Da hat sich wirklich einiges getan unter diesen ganz jungen Leuten! Andererseits aber glaube ich nicht, dass sie mit diesem Impetus die Älteren oder die Vertreter der in ihren Augen ganz alten Generation verscheuchen oder verprellen sollten. Sie soll­ten vielmehr darauf aus sein, auf Tuchfühlung mit ihnen zu bleiben und falls nötig die Auseinandersetzung mit ihnen zu suchen. Ich jedenfalls empfände es als Sackgasse, mindestens aber als unklug, jetzt nur für die Kohorte der, ich sag mal der Zehn- bis Zwanzigjährigen zu argumentieren.

Ist das so? Geht es bei Fridays for Future nicht sehr viel weniger als in den 1960er bis 1980er Jahren um die Abgrenzung zu den Älteren? Häufig treten gerade die Eltern doch mittlerweile regelrecht ermutigend auf. Sie unterstützen den Streik und brüsten sich bisweilen beinahe damit, dass ihr Kind da auch mitgeht. Auch wo die Bewegung ins Gespräch kommen will mit den Politikern, angehört werden will und sich von Wissenschaftlern beraten lässt: Von tiefsitzendem Misstrauen gegenüber den Älteren ist da unseres Erachtens nach wenig zu erkennen vergli­chen mit der pauschalisierten Nazi-Schelte der 68er gegenüber ihren Vorgänger-Alterskohorten.

Das sehe ich anders. Ich sehe zwar auch, dass etwa der Konflikt der 68er mit ihren Nazi-Eltern tiefer ging. Die damalige Bewegung besaß einerseits zwar ein Generationenprofil, war andererseits aber viel zu begrenzt, um für »ihre Generation« insgesamt sprechen zu können. Der heutige Grundvorwurf lautet, dass die älteren Generationen ihnen, nämlich den ganz Jungen, »die Zukunft klauen« würden. Die ältere Generation habe hinsichtlich der Klima­verheerungen nichts gelernt, und wenn die Älteren etwas machten, dann nur nach Vorgabe, unter dem Druck, den jetzt die ganz Jungen auf sie ausüben. Insgesamt sehe ich ganz deutlich die Konturen eines Generationenprojekts. Das Selbstbild dieser jungen Bewegung ist vor allen Dingen durch die Vor­stellung geprägt, dass die Alten oder Älteren gar nicht begriffen hätten, wel­chen Schaden sie durch ihre selbstverständliche Nutzung von Verkehrsmitteln, durch einen bestimmten Konsum, durch den Verzehr bestimmter Lebens­mittel, sprich: durch die von ihnen internalisierten Verhaltensweisen eigent­lich erzeugen. Das sitzt sehr tief und ich glaube auch, dass zum Beispiel die Entscheidung dafür, die eigene Ernährung bis hin zum Veganismus umzu­stellen, zwar von vielen Jungen geteilt wird, aber sehr viel weniger von den Erwachsenen und Älteren. Es gibt da auch etwas, das sehr junge Menschen generell und epochenübergreifend prädestiniert für die Klimaschutzbewe­gung, insofern sie lebensphasentypisch stark darauf ausgerichtet sind, sich für die Umwelt und insbesondere für bestimmte Tiere einzusetzen. Es gibt da eine besonders ausgeprägte Sensibilität jüngerer Menschen. Diese Ausgangs­situation macht sie besonders empfänglich für Zielsetzungen, die jetzt im Sinne des transnationalen, internationalen Klimaschutzes artikuliert werden.

Welche Möglichkeiten hat eine strukturell systemimmanente Regierungspolitik überhaupt, auf Grundsatzfragen adressierende Proteste zu reagieren? Ist es ihr möglich, deren Anliegen zu erfüllen – oder eilt sie ihnen zwangsläufig, mit noto­risch zu kurzen Schritten, nach?

Unter der Voraussetzung der gegenwärtig agierenden Großen Koalition ist es extrem schwierig, auf die Proteste angemessen zu reagieren. Diese Koali­tion ist ja bis zu einem gewissen Grad an sich selbst gescheitert. Es wird die Notwendigkeit geben, Koalitionen auf Bundesebene künftig in anderer Weise zustande zu bringen. Nun, wie kann die Politik sich bewegen und reagie­ren? Die Bundesregierung könnte erst einmal Bilanz ziehen und einzuräu­men versuchen, was da alles – um es ganz lapidar zu formulieren – vergeigt worden ist. Zum einen hätte nie und nimmer passieren dürfen, dass ein für den Komplex Modernisierung und Klimaschutz so zentrales Ministerium wie das Bundesverkehrsministerium zum Erbhof der CSU gemacht wird. Es ist absolut verheerend gewesen, dass das infernalische Trio Ramsauer, Dobrindt, Scheuer dieses Feld mindestens ein Jahrzehnt lang hat besetzen können. Das Bundesverkehrsministerium erscheint unter der CSU im Grunde wie der verlängerte Arm der Automobilindustrie – denken Sie nur an den Umgang mit der Dieselkrise. Daneben gibt es noch ein anderes großes Segment: die Dauerkrise der Deutschen Bahn. Zum anderen empfinde ich es als absolut verheerend, dass mit dem ehemaligen CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer ein Politiker hat Bundesinnenminister werden können, der die Flüchtlingspoli­tik der Bundeskanzlerin frontal attackiert und vor allen Dingen die Kontakte mit Nationalisten und Rechtpopulisten Osteuropas gesucht und damit die Gräben in der Union vertieft hat. Dass es ihm trotz seiner so konträren Posi­tionen ermöglicht worden ist, das Bundesinnenministerium in die Hand zu bekommen und daraus auch noch ein Heimatministerium zu machen, mit all den Erweiterungen, die das geweckt hat, halte ich für einen großen poli­tischen Fehler der Bundeskanzlerin. Insofern sehe ich in der Tat die CSU als die schwierigste und problematischste Partei dieser Großen Koalition. Das sind aber nur zwei ganz exponierte Ministerien, die sich in den Händen von CSU-Politikern befinden. Das Desaster mit der Maut, bei der von vornhe­rein absehbar gewesen ist, dass sie wegen ihrer fremdenfeindlichen Impli­kationen nicht durch die europäische Rechtsprechung wird durchkommen können, ist exemplarisch; diese subkutane Fremdenfeindlichkeit, die man mit diesem Schritt hat realisieren wollen, und die dann auch noch viel Geld verschlungen hat – Geld, das durch die Steuerzahler, also die Allgemein­heit, aufgebracht werden soll. Die SPD wiederum ist in den Keller gerutscht und befindet sich in einer enorm schwachen Position. Sie hat zuletzt fast nur noch auf das Ticket Soziale Gerechtigkeit gesetzt. Das hatte sich aber schon im Zuge der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz als Problem erwiesen. Schulz ist mit diesem Großthema gescheitert, weil für die Bevölkerungs­mehrheit soziale Gerechtigkeit ganz offenbar nicht mehr das entscheidende Thema ist. Anstatt die Positionsvielfalt einer Volkspartei wahrzunehmen, die auch in so zentralen Feldern wie der Digitalisierung oder der Finanzökono­mie entsprechend aufgestellt sein muss, hat sie alles auf eine Karte gesetzt. Aber sich nur auf ein einziges Thema zu beschränken, ist zu wenig für eine Partei wie die SPD. Damit ist sie meines Erachtens im Kern gescheitert. Sie hat gezeigt, dass sie nicht in der Lage ist, sich selber so weit zu modernisie­ren und sich als flexibel genug zu erweisen, um auch wirklich eine wichtige Rolle in der gesamten Politik für sich beanspruchen zu können. Ich sage das nicht aus Häme, sondern weil ich das wirklich für einen Verlust halte, dass die Positionen, die früher mit der SPD verbunden waren, inzwischen so ge­schwächt sind und es keine realistischen Aussichten mehr zu geben scheint, diesen Prozess der Entwertung zu stoppen.

Kommen wir noch einmal zurück auf die APO – oder besser: eine Form von APO, die man vielleicht als »Alternative Politische Organisation« fassen kann. Be­wegungen wie Fridays for Future oder auch die Gelbwesten in Frankreich: Wie können solche Bewegungen längerfristig bestehen und erfolgreich sein, um nach­haltig Wirkung zu entfalten?

Die Wahrheit ist: In dem Moment, als eine Bewegung wie die alte APO 1969 die Organisierung gefordert hat, war die Bewegung kaputt. Man hat diese Forderung ganz klar als Notwendigkeit, als Lehre aus den politischen Nieder­lagen gesehen und glaubte, durch einen Aufruf gegensteuern zu können, alle Teile der Bewegung müssten sich nun organisieren. Die damalige Bewegung ist zu ihrem Schaden dann in ML-Sekten zersplittert, zerfasert und kontra­diktorisch aufgeladen worden. Es hat vieler Umwege bedurft, um dann über die Ökologie, den Umweltschutz, die Anti-AKW- und die Frauen-Bewegung noch einmal die Kurve zu kriegen und für andere politische Ausrufezeichen zu sorgen. Das ist für mich eine Negativerfahrung, die mir jedesmal in Erin­nerung kommt, wenn ich die Aufforderung zur Organisierung höre. Sicher­lich ist eine fixe Organisation in einem funktionalen Sinne vorteilhaft, um bestimmte Interessen und Ziele umsetzen zu können, wohingegen sich eine naturwüchsige Bewegung, die aus vielen Zufälligkeiten und Spontaneitäten besteht und bei der kaum etwas richtig auf Dauer gestellt ist, immer wieder neu manifestieren muss. Eine Organisation entwickelt in der Regel Struktu­ren, die über Jahre hinweg Gültigkeit besitzen. Bei einer Bewegung ist es ganz schwer zu sagen, ob sie in einem halben, dreiviertel oder im übernächsten Jahr noch in der gleichen Form existiert. Die Vorstellung einer Dauermobili­sierung ist häufig illusionär, weil sich zeigt, dass kaum jemand die Zeit und Energie dafür aufbringen kann. Irgendwann setzt verlässlich der Verschleiß einer Mobilisierung ein. Es bedarf zudem gewisser Erfolgserlebnisse. Mo­mentan spricht bei Fridays for Future einiges dafür, dass ein solches Erfolgs­erlebnis allein schon wegen der gigantischen Aufmerksamkeit vorhanden ist. In der öffentlichen Wahrnehmung, in den Medien, in der Presse, in den Social Media, aber auch in den Parteien und selbst in der Exekutive zeitigen diese Initiativen Wirkung. Jedoch haben wir keine Aggregation, die man als organisierte Unterteilung dieser Bewegung bezeichnen könnte. Ich würde daher als dritten Weg zwischen einer starren Organisationsform und einer auf Dauermobilisierung angewiesenen Bewegung für eine Netzwerkstruktur plädieren. Ich glaube, dass diese vorteilhafter sind als fixe Organisationen. Bei Organisationen schwingt sehr häufig das Problem mit, dass aufgrund des Strebens nach möglichst funktionalen und effektiven Strukturen, Kommuni­kations-, Handlungs- und Umsetzungsprozessen, das ganze Feld verengt wird und man sich deshalb eines Teils der Mobilisierungsressourcen beschneidet. Das ist der große Nachteil von fixen Organisationen. Bei Netzwerken funktio­niert das dagegen viel besser, wie schon die Friedensbewegung x-fach gezeigt hat. Im Zusammenhang mit dem NATO-Nachrüstungsbeschluss etwa hat es eine Vielzahl von Organisierungselementen gegeben, aber eben keine über­greifende Organisation, sondern eher ein Netzwerk auf der Basis einzelner Kooperationen. Und ich finde, dass es auch für den gegenwärtigen Stand der Selbstklärung von Fridays for Future und für die Dinge, die momentan ak­tuell sind, vernünftiger ist, sich für Netzwerke zu entscheiden. Diese können sich zu partiellen Organisationsformen verdichten, sollten es dabei aber nicht übertreiben und die Gestalt einer Dachorganisation annehmen. Es kann sein, dass zu irgendeinem Zeitpunkt der Wunsch entsteht, sich in die Form einer Partei zu transformieren. Wir konnten das etwa in Spanien beobachten, wo die sich 2011 im gesamten Land ausbreitenden Indignados sich 2014 in die Partei Podemos transformiert haben und nun im parlamentarischen System durchaus eine gewisse Größe darstellen. Das würde ich bei Fridays for Future aber jedenfalls momentan nicht für besonders sinnvoll halten, um das Reser­voir für die Mobilisierung und die Dynamiken, die durch Demonstrationen auf der Straße freigesetzt werden, nicht unnötig einzuschränken. Denn wenn man sich dieser Quellen nicht mehr versichern kann, dann kann alles auch ganz schnell wieder in sich zusammenfallen. Organisationen können implo­dieren und dann ist ganz schnell Schluss – Punkt, aus, vorbei.

Insgesamt glaube ich, dass Netzwerke am ehesten in der Lage sind, eine angemessene Form zu schaffen für die nötige Binnenkommunikation sowie für die Verbindung der Aktionsanalyse mit der Abwägung von Handlungs­optionen innerhalb eines solchen Zusammenhangs. Das Ganze lediglich auf der Bewegungsebene zu belassen, hielte ich für unproduktiv, weil es von zu vielen Zufälligkeiten und Naturwüchsigkeiten abhängig ist, wenn immer wie­der neu Demonstrationen für dieses und jenes durchgeführt werden müssen. Die Bewegungsebene verhindert, dass sich bestimmte Entscheidungselemente herausbilden. Eine Dachorganisation zu schaffen impliziert andererseits die Gefahr, dass bestimmte Bewegungsressourcen abgeschnitten werden, die dann verpuffen und irgendwann die Organisation implodieren lassen. Das sind sozusagen die beiden Negativbeschreibungsmuster und das organisie­rende Element dazwischen scheint mir das Netzwerk zu sein. Und es wäre auch kein Problem, aus einem Netzwerk irgendwann Organisationsformen zu entwickeln oder die Transformation in eine Partei vorzunehmen, wenn das sinnvoll erscheint. Ich halte nur relativ wenig davon, wenn es jetzt noch eine weitere Organisation für Natur- und Klimaschutz gäbe. Es gibt bereits so viele Parteien und Organisationen – geradezu ein Überangebot. Ich finde andere Dinge wichtiger, an erster Stelle diese Bewegung, die momentan noch eine Dynamik enthält, von der wir nicht wissen, ob sie weiter anwächst und wohin sie genau führen wird. Diese Dynamik muss – das ist meine Erkennt­nis aus den vergangenen Jahrzehnten – gehegt werden, sie ist ein wirklich zartes Pflänzchen. Insofern finde ich solche Treffen wie den Sommerkongress von Fridays for Future in Dortmund sehr gut, weil dort Räume geschaffen worden sind, die eine kollektive Reflexion ermöglicht haben. Es bedarf na­türlich einer Arbeitsteilung, bestimmte Teile dieser Bewegung konzentrieren sich auf diese und andere auf jene Fragen, das ist selbstverständlich. Aber letztlich halte ich auch im Sinne der Effektivität die Netzwerkstruktur für vorteilhaft – verglichen zum einen mit der bloßen Bewegungsform und zum anderen mit einer vergleichsweise statischen Organisationsform.

Ist es denn möglich, aus der Erfahrung mit anderen APOs zu lernen und von de­ren möglichen Lehren ausgehend zu bestimmen, welche Aspekte erfüllt werden müssen, um Erfolg oder Aussicht auf Erfolg zu haben?

Ich würde hierzu auf zwei Bewegungen verweisen wollen, die sich frü­her hinsichtlich ihrer Transnationalität ganz ähnlich wie Fridays for Future ausgerichtet haben. Damit meine ich die Anti-Globalisierungs- und die Occupy-Bewegung. Ich finde, man muss – wenn man über die gegenwär­tige Fridays-for-Future-Bewegung in prognostischer Hinsicht sprechen will – diesen Vergleich herstellen. Und zwar viel stärker als mit der 68er-Bewegung oder den ihr nachfolgenden Bewegungen; zum einen, weil sie uns historisch näher stehen, zum anderen aber auch, weil sie sich beide eine Zeit lang auf der internationalen Ebene zu etablieren vermochten. Die 1999 in Seattle wegen einer dort stattfindenden WTO-Konferenz entstandene Anti-Globalisierungs­bewegung hat dann 2001 zu den spektakulären Auseinandersetzungen wäh­rend des G8-Treffens in Genua und später zu ähnlichen Protesten in Heiligen­damm, Kopenhagen, Brüssel und anderswo geführt. Zudem hat sie 2001 zur Gründung des globalisierungskritischen Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre geführt, das zuletzt im vergangenen Jahr in Salvador da Bahia zusammengekommen ist. Das Problem der Anti-Globalisierungsbewegung war, dass sie nie wirklich einen direkten Adressaten für ihre politischen Interventionen gefunden hat. Die Frage, die letztlich immer offenblieb, lau­tete: An wen wendet man sich, wenn man selbst nicht über die Machtinstru­mente verfügt, um etwas politisch umsetzen zu können? Die G7-, G8- oder G20-Treffen haben einen Teufel getan, um sich auch nur irgendeines Themas der Anti-Globalisierungsbewegung anzunehmen. Die haben sich bloß abge­schottet, indem sie massive Polizeitruppen und Repressionsapparate aufboten, um nicht mit den Botschaften der Bewegung konfrontiert zu werden. Dennoch hat die Anti-Globalisierungsbewegung insbesondere mit Attac doch sehr viel länger existiert als Occupy und existiert im Gegensatz zu ihr – wie residual auch immer – weiterhin. Als die Occupy-Aktivisten im September 2011 an­stelle ihres ursprünglichen Wunsches, wegen der internationalen Finanzkrise gleich die Wall Street einzunehmen, den Zuccotti Park in New York besetzt hielten, hatte das weltweite Auswirkungen. Ähnlich wie jetzt bei Fridays for Future hatte es eine enorme Ausbreitung der Börsen- und Bankenkritik ge­geben. Alle litten seit 2007 unter der internationalen Finanzkrise und es gab überall anschlussfähige Bewegungsansätze. Die haben sich aber in den USA, im Ursprungsland von Occupy, nur ein halbes, dreiviertel Jahr halten kön­nen, da war es dort schon wieder vorbei. Die US-Polizei war in den einzelnen Bundesstaaten immer schärfer gegen die Camps vorgegangen, es gab einen enorm starken politischen Druck auf die Kritiker des neoliberalen Kurses. In der Bundesrepublik hatte Occupy länger Bestand, gut zwei Jahre etwa vor der EZB in Frankfurt, wo man sich schließlich in Blockupy verwandelte, aber auch in Hamburg Berlin und anderen Städten. Insgesamt aber hat diese Be­wegung einen großen Fehler gemacht: Sie war nur nach innen ausgerichtet, sie hat vor allem versucht, in Gestalt der Asamblea ihre basisdemokratischen Prinzipien zu praktizieren, sich dabei aber viel zu wenig nach außen gewen­det. Sie hatte nicht wirklich den Anspruch verfolgt, einen Adressaten zu fin­den und ihn mit bestimmten politischen Forderungen zu konfrontieren. Im Vergleich dazu ist die Fridays-for-Future-Bewegung ganz anders positioniert. Sie hat gezeigt, welchen Druck man machen kann, wenn man an die Politik herantritt und ihr gegenüber einen Katalog von bestimmten Forderungen für den Klimaschutz aufstellt und die internationalen Konferenzen als Foren zu nutzen versucht, um weitere Multiplikationseffekte zu erzielen. Das alles hat die Occupy-Bewegung nicht vermocht. Die ist meines Erachtens nicht zu Unrecht gescheitert, weil sie einfach zu unpolitisch war.

Man könnte im Zuge dessen noch auf etwas anderes verweisen, was ich auch in dem Zusammenhang für ein interessantes Beispiel halte, wenngleich es sich um eine Partei handelt, nämlich die Piratenpartei. Die Piratenpartei gründete in Anliegen und Absichten, die im Zeitalter der Digitalisierung auszuprobieren absolut naheliegend ist. Das Internet als Raum, in dem man gesellschaftliche Freiheiten unbeschränkt durch Institutionen und etablierte Verfahren gestalten kann, legt die Einführung eines Modelles der liquid democracy nahe – also all dessen, was sich im Parlamentarismus nicht rea­lisieren lässt, weil dieser kein basisdemokratisches Ideal, sondern ein reprä­sentatives Ziel verfolgt. Die Piratenpartei war mit der Überzeugung angetre­ten, dass man im Zeitalter der Digitalisierung die Demokratie mit den Mitteln der modernsten Kommunikationstechnologien so transformieren kann, dass sie durch Internet-Voten dem Ideal einer direkten Demokratie immer näher kommt. Damit ist sie fulminant gescheitert. Sie existiert zwar noch, sie ist aber nur noch ein Schatten ihrer selbst und wird sich aller Wahrscheinlich­keit nach davon auch nicht mehr erholen. Trotzdem sind ihre Zielsetzun­gen nicht einfach verschwunden und erst recht nicht die Digitalisierung des Politischen, die auch bei Fridays for Future eine zentrale Rolle spielt. Es ist ganz klar, dass ohne diese Mediatoren, insbesondere ohne die Social Media, diese Bewegung in vielerlei Hinsicht sich gar nicht in der realisierten Form hätte organisieren, versammeln und treffen können. Dasselbe trifft im Üb­rigen auch auf die sogenannte Arabellion zu, die ja große Anfangserfolge erzielt hatte, dann aber durch den Syrienkrieg und anderes mehr zu Rück­schlägen und schließlich zu einer Reihe von Katastrophen geführt hat. Ur­sprünglich war das aber ebenso unglaublich wie faszinierend, dass in di­versen arabischen Staaten Freiheitspostulate formuliert worden waren und sich eine Bewegung unter den Vorzeichen der Digitalisierung formiert hatte. Ohne die Smartphones wäre es den meisten auf dem Tahrir-Platz in Kairo gar nicht möglich gewesen, sich zu den jeweils ausgemachten Zeitpunkten zu versammeln. Kurzum: Ich würde dafür plädieren, bei der Reflexion über die neuen Protestbewegungen immer auch die Digitalisierung mit all ihren Möglichkeiten miteinzubeziehen und insofern anders über sie nachzuden­ken als noch über Bewegungen aus dem analogen Zeitalter. Ich glaube, dass sich durch die Digitalisierung nicht nur die Geschwindigkeit verändert hat, in der sich Bewegungen formieren, sondern die Formbildung von Bewegun­gen als solche. Um den Stellenwert dieses Aspekts hervorzustreichen, muss ich ein wenig ausholen.

Das entscheidende Novum der 68er-Bewegung hatte ja darin bestanden, dass sich die Protestierenden im Unterschied zu denen anderer Protestbewe­gungen, wie denen der Friedensbewegung etwa, die numerisch im Übrigen sehr viel stärker gewesen sind, zugleich auch selber zu verändern und zu revolutionieren versucht haben. Die 68er-Bewegung stand deshalb ganz im Zeichen der Emanzipation. Das heißt, dass die Herausforderung des Politi­schen auch gleichzeitig als eine Kraft gesehen wurde, sich selber zu verän­dern. Man ging davon aus, dass politische Veränderungen so lange nichts nutzen, solange sie sich nicht auch in den Subjekten, die diese Veränderun­gen herbeiführen, niederschlagen. Genau an derselben Stelle, der eines Pro­zesses der Verschränkung von Objektivität und Subjektivität – früher hätte man noch von einer Dialektik gesprochen –, sind wir jetzt unter den Vorzei­chen der digitalen Gesellschaft angekommen. Die jungen Leute sehen sich selber als Akteure und Exponenten neuer Freiheiten, die sie in die Lage ver­setzen, viel selbstverständlicher auf Chancen zurückzugreifen, die einem im analogen Zeitalter noch gar nicht zur Verfügung gestanden haben. Nur unter der Voraussetzung dieser Erweiterung des Möglichkeitsraumes lässt sich der Stellenwert der gegenwärtigen Protestbewegung angemessen ana­lysieren und einschätzen. Die Digitalisierung der Bewegungsformation ist ein integraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses und ihrer Möglichkei­ten. Die Handlungsoptionen sind nun durch die neuen Kommunikations­möglichkeiten bestimmt, welche die Social Media bieten. Und das ist etwas ganz anderes, als bloß ein Flugblatt zu verteilen, für dessen Druck man zu­vor eine Matrize abziehen musste. Das waren ja unglaublich umständliche Fertigungsschritte. Heute dagegen wischt man nur noch eher beiläufig übers Display seines Smartphones oder Tablets, um seine Message unter die Leute zu bekommen. Das ist nicht nur ein anderer Umgang – dieser hat auch ein ganz anderes Denken, eine andere Einstellung zur Folge. Natürlich erleich­tert es mitunter auch, den bloßen Anschein eines »Als ob« von Beteiligung zu erzeugen, wie das häufig etwa bei Campact geschieht, jener durch Online-Appelle gestifteten »Bürgerbewegung«, in der sich angeblich zwei Millionen Menschen »für progressive Politik« einsetzen. Meinem Eindruck nach gibt es mittlerweile große, übergreifende Zusammenhänge von Protestakteuren, die zu einem nicht unerheblichen Teil nur virtuell bestehen und sich nicht in sozialen Manifestationen konkretisieren. Gerade an diesem Punkt aber ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich Protest letztlich in einer realen So­ziabilität niederschlagen muss und nicht einfach im Bereich des Virtuellen verbleiben kann. Eine Bewegung ist keine Cloud! Das ist im Übrigen auch eine der Lehren aus der Arabellion gewesen.

Im Februar 2011 hatte das Mubarak-Regime in Kairo während der »18 Tage des Zorns« versucht, den Aufruhr zu stoppen, indem es auf einen Schlag den gesamten Internetzugang abgeschaltet hat. Es gab nun keine Möglichkeit mehr, über Smartphones miteinander zu kommunizieren. Daraufhin muss­ten die Akteure völlig umschalten und damit beginnen, lokal zu mobilisieren. Das haben sie dann auch getan. Indem sie nun auch die Vorstädter und damit die ärmeren Schichten einbezogen, bekam die Bewegung einen ganz ande­ren Charakter. Diejenigen, die nicht so selbstverständlich oder gar nicht in den Social Media unterwegs waren oder aber dem Internet insgesamt fern­standen, wurden nun integriert. Das hat dem Aufstand in der ägyptischen Hauptstadt erst die Stärke gegeben, um das Regime auch tatsächlich zu Fall zu bringen. Damit will ich einerseits die Bedeutung der Digitalisierung und die Errungenschaften der Social Media nicht einfach in Abrede stellen, an­dererseits aber die Frage aufwerfen, ob sich Bewegungen letzten Endes nicht immer in sozialen Realia konkretisieren müssen.

Sie selber haben einmal gesagt, dass einer der größten Erfolge der 68er gewesen sei, den Einzug der NPD in den Bundestag verhindert zu haben. Wenn wir in den heutigen Bundestag schauen, dann sehen wir mit der AfD eine zahlenmäßig starke rechte Fraktion. Es ist nicht gelungen, ihren Einzug in den Bundestag zu verhindern, auch nicht durch Proteste von außerhalb. Hat sich da gesellschaft­lich und zivilgesellschaftlich etwas verschoben, das den Einzug der AfD in den Bundestag ermöglicht hat?

Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst einmal die Differenz zwischen diesen beiden Parteien markieren. Obwohl die AfD immer häufi­ger mit der NPD verglichen wird, so lässt sie sich nicht einfach auf derselben Ebene einordnen. Die NPD ist ja 1964 in Hannover ursprünglich als ein Zu­sammenschluss von mehreren rechtsradikalen Parteien gegründet worden, um die Zersplitterung der Rechten aufzuheben. Und das ist ihr im Prinzip auch gelungen. Zwischen 1966 und 1968 hat die NPD bei Landtagswahlen einen Erfolg nach dem anderen verbuchen können; in Baden-Württemberg erzielte sie im April 1968 sogar 9,8 Prozent und es gab Prognosen, dass sie es nun auch schaffen würde, in den nächsten Bundestag einzuziehen. Im September 1969 scheiterte sie dann aber zur allgemeinen Überraschung mit 4,3 Prozent der Stimmen – wenn auch nur relativ knapp – an der Sperrklau­sel. Die weitere politische Entwicklung hätte sich wohl anders vollzogen, wäre die NPD damals hereingekommen. Die NPD war und ist noch immer eine klassisch rechtsradikale, in erheblichen Teilen neonazistische Partei. Das ist die AfD aber nicht, in ihren Anfängen weniger als heute. Die AfD, die ja 2013 in Hamburg gegründet worden ist, war zunächst eine Professorenpar­tei, die sich auf die Finanzkrise bezogen hat und gegen die Eurorettung war; sie hatte also ursprünglich eine andere Agenda als heute. Nun hat sich die AfD aber gewissermaßen bis zur Kenntlichkeit gehäutet. Über die Stationen ihrer Parteivorsitzenden Lucke, Petry und Gauland hat sie sich immer stärker als eine in Teilen rechtsradikale Partei herauskristallisiert. Das ist deshalb so interessant, weil sie ja an Relevanz durch ihre immanente Radikalisierung nicht etwa verloren, sondern noch weiter zugenommen hat. Dennoch ist die AfD auch heute, also im Herbst 2019, immer noch nicht in Gänze identisch mit einer rechtsradikalen und in erheblichen Teilen neonazistischen Partei wie der NPD. Freilich hat die AfD eine Dynamik losgetreten, bei der nicht auszuschließen ist, dass ihre neonazistischen – wenn man so will – Hard­core-Teile irgendwann auch tatsächlich die Macht in der Partei erringen wer­den. Darauf deuten jedenfalls einige Konflikte auf Landesebene ebenso hin wie die Tatsache, dass mit Alice Weidel die Co-Vorsitzende der AfD im Bun­destag nicht mehr für den Ausschluss des Rechtsaußen Björn Höcke votiert, sondern ihn durchaus mitakzeptieren will. Das könnte jedenfalls ein Indiz für eine weitere Gewichtsverlagerung sein. Aber für mich stellt die AfD in ihrer ganzen Ambiguität immer noch mehrheitlich eine rechtspopulistische und nur in ihrer Minderheit eine rechtsradikale oder rechtsextreme Partei dar. Nun ist es ihr im Oktober 2017 tatsächlich gelungen, in den Bundestag vorzudringen. Und nicht etwa knapp, sondern mit 12,6 Prozent der Stim­men, die ihr 94 Mandate bescherten, überaus deutlich. Warum ist ihr das im Unterschied zur NPD gelungen?

Bei der NPD hat meiner Einschätzung nach ein singuläres Ereignis dazu geführt, dass ihr der Einzug in den Bundestag misslang. Die Tatsache, dass der Bundeseinsatzleiter des NPD-Ordnungsdienstes am 16. September 1969 bei einer Demonstration gegen den damaligen NPD-Vorsitzenden Adolf von Thadden in Kassel seine Nerven verlor und zwei Demonstranten anschoss. Das hat der NPD den Schlussspurt ihres Bundestagswahlkampfes total ver­hagelt. Darin sind sich auch die meisten der damaligen Kommentatoren ei­nig gewesen, dass dieser Zwischenfall, der zwei Schülern nur zu leicht das Leben hätte kosten können, die entscheidenden Prozentpunkte gekostet hat. Hätte die NPD es stattdessen bis in den Bundestag geschafft, dann hätte es keine sozial-liberale Koalition und keinen Reformkanzler Brandt gegeben, weil das schon numerisch ausgeschlossen gewesen wäre. Mit hoher Wahr­scheinlichkeit hätte es dann 1969 eine Fortsetzung der Großen Koalition ge­geben und das hätte wiederum bedeutet, dass die 1970er Jahre völlig anders verlaufen wären. Dann hätte es weder eine Reformära noch eine neue Ost­politik geben können.

Nun aber noch einmal zurück zur AfD: Ich glaube, dass man es versäumt hat, sich im Vorfeld genauer und dezidierter mit der AfD auseinanderzuset­zen. Das ist natürlich insbesondere ein Manko der in der Bundesrepublik führenden Parteien, die diese Gefahr nicht richtig eingeschätzt haben. Mir klingt immer noch ein Diktum im Ohr, das von dem Holocaust-Überleben­den Ralph Giordano stammt, der seinerzeit ein vielbeachtetes Buch über »Die zweite Schuld« geschrieben hat. Von ihm stammt der Satz, dass Rechtsradi­kalismus etwas sei, womit jedes Land und jeder Staat rechnen müsse. Das ähnelt übrigens einem anderen Diktum, das von Erwin Kurt Scheuch, einem 2003 verstorbenen Soziologen, stammt und lautet, dass der Rechtsradikalis­mus zu den üblichen Pathologien moderner Industriegesellschaften zähle. Giordano hat diesen Gedanken aber um einen entscheidenden Punkt fort­geführt: Seiner Vorstellung nach besteht der Umschlagpunkt darin, dass es rechtsextremen Kräften gelingen könnte, die Macht in staatlichen Institutio­nen zu erringen. Erst dann würde es wirklich gefährlich. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann stehen wir heute kurz davor.

Heißt das, dass Gesellschaft und Politik dem Aufstieg der extremen Rechten zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht haben? Und wenn ein Erfolg der 68er darin bestanden hat, die NPD aus dem Bundestag fernzuhalten, bedeutet dies, dass eine starke Linke das kräftigste Bollwerk gegen rechts ist? Es gibt ja auch die Gegendeutung, dass eine radikale Linke und radikale Rechte sich wie kom­munizierende Röhren gegenseitig stärken.

Das ist jedenfalls das klassische Argument zum Untergang der Weimarer Republik, dass sich die Extreme von rechts und links gegenseitig aufge­schaukelt hätten und dies letztlich der Weimarer Republik den Todesstoß versetzt habe. Die NSDAP-Wählerforschung, insbesondere die von Jürgen W. Falter verfasste Studie »Hitlers Wähler«, besagt jedoch eher das Gegen­teil: dass nämlich die Mittelschichtenparteien damals zusammengebrochen seien und daraus das Hauptpotenzial des Nationalsozialismus entstanden sei. Die KPD war offenbar schon viel zu geschwächt, um als gleichwertige Gegnerin der rechten Gefahr in der Endphase der Weimarer Republik gelten zu können. Natürlich hat es damals auch eine Reihe von Einzelphänomenen gegeben, bei denen man sich nicht des Eindrucks erwehren konnte, dass es auch eine wechselseitige Aufschaukelung gegeben hat. Das war jedoch nur ein sekundäres Phänomen.

Allerdings würde ich es aktuell nicht so sehen, dass jetzt die Linke als solche – und damit ist nicht allein die Partei gemeint, die sich dieses Etikett unter den Nagel gerissen hat – dazu aufgefordert werden müsste, der AfD entgegenzutreten. Diejenigen, die sich als links verstehen und insbesondere die Vertreter der Antifa begreifen sich ja bereits in dieser Hinsicht. Letzt­lich müsste es meines Erachtens eine zivilgesellschaftliche Selbstverpflich­tung sein, der AfD entgegenzutreten. Ich halte das insofern nicht für eine Angelegenheit der jeweiligen politischen Positionierung – egal ob man sich jetzt als liberal oder links, als Christdemokrat, Sozialdemokrat, Grüner oder als Freidemokrat begreift. Es muss schlicht das Ziel sein, zu verhindern, dass es rechtsextremen Kräften gelingt, mehr und mehr in die bestehenden demo­kratischen Institutionen vorzustoßen und – wenn man so will – einen langen Marsch durch die Institutionen unter rechten Vorzeichen zu starten – und der ist meiner festen Überzeugung nach bereits im Gange. Dies zu verhindern müsste also das erklärte und vornehmliche Ziel sein. Denn in dem Augen­blick, in dem eine bestimmte Anzahl von radikalen Rechten institutionelle Hebel in ihren Händen halten, wird es erheblich schwerer sein, diese Kräfte noch zu stoppen. Die Gefährdungslage, die sich in den letzten Jahren aus­gebreitet hat, bewegt sich ja auf mehreren Ebenen: auf der bundesdeutschen Ebene nicht weniger als auf der Ebene der Europäischen Union. Eine Zeit lang glaubte man ja, dass das Erstarken der rechten Kräfte vornehmlich ein Problem der osteuropäischen Mitgliedsländer der EU sei. Inzwischen haben wir aber erleben müssen, dass es mit der Lega Nord Matteo Salvinis auch in Italien Rechtsextremisten zeitweilig an die Spitze der Regierung geschafft haben. In Frankreich hat sich bei der letzten Präsidentschaftswahl Emmanuel Macron mit seiner Partei En Marche noch einmal gegenüber Marine Le Pen und ihrem Front National durchgesetzt, aber schon die nächsten Wahlen könnten ganz anders ausgehen. Selbst in Spanien, das lange Zeit gegenüber fremdenfeindlichen und rechtspopulistischen Kräften immun zu sein schien, haben sich in Andalusien zuletzt derartige Kräfte lautstark zu Wort gemeldet. Auch da scheinen sich die Kräfte zu verschieben. Dann haben wir natürlich Großbritannien mit den Brexiteers und die USA mit Donald Trump, nicht zu vergessen Brasilien und die Philippinen mit ihren rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro und Duterte, schließlich aber auch die beiden Autokraten Erdogˇan in der Türkei und Putin in Russland. Wenn man das zu einem Gesamtbild der gegenwärtigen internationalen Spannungsbögen zusammenzieht, da weiß man eigentlich gar nicht mehr, wo man zuerst ansetzen soll. Der Kampf für die Demokratie ist jedenfalls dadurch erheblich erschwert worden, dass mit Großbritannien und den USA auch die einstigen Leuchtfeuer der Demokratie zu erlöschen drohen. Es scheint in der Tat so zu sein, dass die Globalisierung, die ja mit der Ausweitung des Marktes zugleich auch zu einer Überwindung von Nationalismen geführt hat, jetzt einen nationalistischen Backlash zur Folge und zu den erwähnten politischen Szenarien mit ihren dubiosen Figu­ren geführt hat. Letztlich läuft das auf ein Kategorienpaar hinaus, das von Hannah Arendt in ihrer Totalitarismus-Studie an prominenter Stelle genannt worden ist: das Bündnis von Mob und Elite. Während die deutsch-jüdische Politikwissenschaftlerin davon überzeugt war, dass weder der Mob noch die Elite im eigentlichen Herrschaftsapparat eine Rolle spielen würde, so scheint sich das gründlich verändert zu haben. Wenn man sich nur einmal anschaut, dass führende Tories, die aus der klassischen Bildungselite ihres Landes stammen, dann über die Macht verfügten, den Brexit unter falschen Vorzeichen in Szene zu setzen, und für ihr Vorhaben auch ein entsprechend ressentimentgeladenes Wählerpublikum gefunden haben, dann muss das ein Alarmzeichen sein. Ähnlich ist es in den Vereinigten Staaten: Wenn ein Unternehmer wie Donald Trump zum Präsidenten gewählt werden konnte, obwohl er zuvor siegessicher erklärt hatte, dass er selbst dann Präsident wer­den würde, wenn er sich dazu bereit erkläre, auf der 5th Avenue in Manhat­tan jemanden zu erschießen, dann klingt das eher nach einer Politsatire als nach einem US-Wahlkampf. Ein Mann ist zum Präsidenten gewählt worden, der sich verbal so gut wie alles leisten kann. Doch wer kann diesen Mann, der wie die Verschmelzung von Mob und Machtelite in einer Person wirkt, überhaupt noch stoppen?

Phänomene wie zum Beispiel die Wahl von Trump werden oft als Ausdruck tie­fer gesellschaftlicher Spaltungen in den USA gesehen, Stichwort Echokammern. Kommen wir noch einmal auf Deutschland, die APO und Fridays for Future zu­rück: Vertiefen solche Phänomene und Entwicklungen die gesellschaftliche Spal­tung zusätzlich? Oder vitalisiert politisches Engagement, vitalisieren politische Proteste die Zivilgesellschaft per se und führen gerade über den Konflikt auch die verschiedenen Segmente am Ende wieder zusammen?

Zunächst mal glaube ich, dass es keine so weitreichende Parallele zwischen dem Bild der US-Gesellschaft und der bundesdeutschen Gesellschaft gibt. Die Spaltung in den Vereinigten Staaten zwischen Demokraten und Republika­nern reicht sehr viel tiefer, als sie jemals zwischen den Unionsparteien und der SPD gegangen ist. Es gibt natürlich eine klare Abgrenzung beider gegenüber der Linkspartei, die ich in vielen Punkten allerdings für überzogen halte. Ich glaube, die Gleichsetzung, die jetzt gegenwärtig wieder ständig mitschwingt, der zufolge die Linkspartei auf ein- und derselben Stufe wie die AfD stehe, und zu sagen, zwischen den Rändern von links und rechts gebe es keinen qualitativen Unterschied, stimmt vorne und hinten nicht. Die AfD ist auch alles andere als eine Randpartei; sie hat – zumindest in den neuen Bundes­ländern – einen so großen Teil der gesellschaftlichen Mitte unter sich, dass es unsinnig erscheint, sie als ein Randphänomen zu bewerten. Im Gegen­teil: sie steht kurz davor, zur Volkspartei des Ostens zu werden. Und mit der Linkspartei ist es so, dass sie nicht mehr in einer solchen Weise charakterisiert werden kann, wie man gegenwärtig die AfD charakterisieren muss. Insgesamt ist die diagnostizierte gesellschaftliche Spaltung in der Bundesrepublik über Jahre hinweg nicht so gravierend gewesen. Denken Sie etwa an die Reaktio­nen auf die sogenannte Flüchtlingskrise 2015. Diese waren unglaublich be­eindruckend, weil es erhebliche Kräfte in der Zivilgesellschaft gegeben hat, die bereit waren, sich zu solidarisieren. Das war in kaum einem anderen europäischen Land in einer vergleichbaren Weise zu erleben. Hier sehe ich, dass sich die Zivilgesellschaft in einem hohen Maße im Rahmen dieser De­mokratie mit all ihren Widersprüchen als funktionstüchtig erwiesen hat. Und ich glaube auch deshalb, dass die Spaltung der Gesellschaft nicht so tiefgrei­fend ist. Zwar gibt es immer noch eine bestimmte Form der Spaltung, aber da habe ich stärker eine soziale und damit die Nachwirkungen der Hartz-Gesetze vor Augen. Eine Zeit lang kristallisierten sich wiederum Montagsdemonstra­tionen heraus, mit der WASG gab es eine neue Partnerin für die Linkspartei und die rangierte zu der Zeit, wo sie auch heute noch steht – irgendwo zwi­schen sieben und zehn Prozent. Ohne die WASG und ohne die Hartz-Gesetze hätte sie darum kämpfen müssen, nicht unter die Fünf-Prozent-Hürde zu fal­len. Aber das ist ein Stück weit Vergangenheit und ich habe gegenwärtig den Eindruck, dass doch genügend Ressourcen vorhanden sind und ausreichend viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mit einer gewissen Sensibili­tät und bestimmten Bereitschaft ausgestattet sind, auch etwas zu investieren und aktiv zu werden, um die Demokratie zu verteidigen. Dennoch werden bestimmte Dimensionen unterschätzt – Dimensionen, die nicht so offenkun­dig sind, die aber plötzlich in Gestalt eines politischen Mordes ganz eruptiv hervorbrechen können. Es ist schwierig, das einzuschätzen. Aber ich glaube, dass man da vor allen Dingen kritischer gegenüber bestimmten Institutionen werden muss. In Sachsen etwa agieren Polizei und Staatsanwaltschaft bis­weilen kontraproduktiv, indem sie einfach nicht akzeptieren wollen, dass sie in Wirklichkeit in ihren Reihen Personen haben, die mit denjenigen Kräften, die Brandanschläge oder Angriffe auf Flüchtlinge verüben, sympathisieren. Da passieren immer wieder Anschläge, die schon in den 1990er Jahren an der Tagesordnung waren. Dieses ganze Kapitel wurde nicht wirklich aufge­arbeitet, und zwar zum Schaden der Demokratie. Man sollte diese Dimen­sion einer Gefährdung des demokratischen Zusammenhalts ernster nehmen, wobei ich nicht meine, dass die bundesdeutsche Gesellschaft im Angesicht der Herausforderung durch die Flüchtlingskrise versagt hätte. Natürlich ist sie eine Art von Wecksignal für die Rechten gewesen; aber inzwischen zeigt sich, dass sie das nicht mehr in derselben Weise ausbeuten können, weil es nicht mehr das Potenzial hat, das noch vor vier Jahren im Spiel war.

Sie sprachen über die Gefahr der Beteiligung der Rechten an den Hebeln der Macht. Wäre nicht eigentlich eher eine dadurch bedingte Mäßigung statt einer Radikalisie­rung erwartbar? Nach dem Prinzip: Wer an der Macht ist, muss Entscheidungen treffen, unterliegt selbst den gegebenen Sachzwängen, entlarvt seine populistischen Versprechungen als substanzlos und schrumpft auf ein »Normalmaß« zusammen?

Ihre Frage ist nicht unberechtigt. Ich glaube allerdings, dass sich eine Pau­schalantwort verbietet und das von Fall zu Fall untersucht und überprüft wer­den muss. Es gibt einen entscheidenden Mechanismus, der meines Erachtens zwar nicht ganz außer Kraft gesetzt ist, der aber nicht mehr hinreichend funk­tioniert: nämlich die Überzeugung, dass man in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten argumentativ etwas gewinnen könne. Diese Hoffnung jedoch, dass dem Miteinander-Reden per se eine aufklärerische Qualität innewohne, der zufolge es zu einer Art Klärung, Ausgleich und Vermittlung komme, trügt. Meine Erfahrung ist die, dass in vielen Fällen denjenigen, die zu argumentie­ren versucht haben, nicht nur die kalte Schulter gezeigt worden ist, sondern dafür – denken Sie nur an die »Pegida«-Demonstrationen – häufiger sogar Schläge bekommen haben. Die mit appellativem Gestus verbreitete Buchpubli­kation »Mit Rechten reden« halte ich jedenfalls für naiv. Natürlich wäre ich der Letzte, der ein ernsthaftes Gesprächsangebot kategorisch ausschließen würde; aber ich glaube, dass man eine realistische Einschätzung gewinnen muss, ob es überhaupt Sinn macht, mit Rechten ins Gespräch zu kommen. Diese Art von Dialektik im Diskurs hat zuletzt immer deutlicher versagt. Und deshalb hat auch der Parlamentseinzug der AfD nicht etwa zu ihrer Domestizierung geführt. Eher das Gegenteil ist richtig. Die Höcke-Fraktion ist noch stärker geworden, als sie es schon 2017 war. Die bisherige Geschichte der AfD zeigt einfach, dass sich mit dem Einzug dieser rechtspopulistischen und partiell rechtsradikalen Partei in die Institutionen auch eine immanente Radikalisierung vollzieht, die für das Gegenteil spricht. Und das finde ich besonders besorgniserregend.

Wenden wir uns an dieser Stelle noch einmal der Klimafrage und den Reaktionen darauf zu: Steckt hinter der Klimafrage und den Klimaprotesten eine, wenn man so will, neue Neue Soziale Frage, um hier einmal Heiner Geißler zu paraphrasie­ren, der diese Formel als Generalsekretär der CDU in den 1970er Jahren prägte?

Nein! Zwar bin ich davon überzeugt, dass die Klimafrage auch eine starke soziale Komponente beinhaltet, diese aber nicht mit der klassischen Sozialen Frage gleichzusetzen ist. Natürlich haben alle Versuche, dem Klimaproblem mit gesellschaftspolitischen Mitteln, letztlich mit Gesetzen, beizukommen, auch allesamt eine soziale Dimension. Es gibt eine Klientel, die Maßnahmen wie bspw. die Besteuerung von CO2-Emission im Prinzip so gut wie überhaupt nicht betreffen, wenn ein paar Euro mehr für eine Tankfüllung gezahlt wer­den müssen, um weiter den SUV fahren und damit den Sohn oder die Tochter vom Kindergarten abholen zu können. Andere wiederum trifft das hingegen ganz empfindlich. Das heißt, bestimmte Besteuerungsmaßnahmen wie etwa die sogenannte Bepreisung von CO2-Emissionen werden allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz zu noch mehr an sozialen Ungleichgewichten füh­ren. Wenn man das jetzt global betrachtet, dann ist es natürlich ohnehin so, dass die unablässig weiter voranschreitende Klimakrise für die ärmeren Län­der viel größere Auswirkungen hat als für irgendein hochindustrialisiertes Land. Selbst die soziale Spaltung in diesen wohlhabenden Ländern einmal in Rechnung gestellt, sind die Konsequenzen auch für die ärmeren Bürger oder für die Unterschicht insgesamt hier längst nicht so einschneidend wie für die Bevölkerung in Ländern wie Bangladesch oder Mosambik. Um sich die un­glaubliche Diskrepanz vor Augen zu führen, muss man wissen, dass ein ein­ziges am Central Park in Manhattan gelegenes Haus genauso viel Wert ist wie die gesamte Wirtschaft in Mosambik. Es ist einfach unfassbar, wie sich im Zuge der Globalisierung die Gewichte inzwischen verlagert haben und die Ungleichverteilung von Vermögen oder Besitztümern immense Dimensionen erreicht hat. Das schlägt sich dann natürlich auch in all den Versuchen nieder, der global drohenden Klimakatastrophe beizukommen, weil alles in diesem Geflecht an unterschiedlichen Nationen, Klassen und Schichten jeweils spezi­fisch ausgetragen wird. Für die einen, die sich ohnehin kaum helfen können, wird es jedenfalls ganz bitter werden, was sie noch alles dafür zahlen bzw. bü­ßen müssen. Und für die wirklich Wohlhabenden, die flexibel genug sind, um eine angemessene Krisenprävention zu betreiben, wird es fast überhaupt keine Rolle spielen. Insofern gibt es natürlich eine soziale Ungleichgewichtung der Folgen und der Versuche, die Folgen einzudämmen und zu beherrschen und möglicherweise zu lösen. Aber diese soziale Frage ist eine der Klimafrage imma­nente Dimension und keine, welche die Klimafrage insgesamt ersetzen könnte.

In der FAZ gab es vor einiger Zeit ein Interview mit Cornelia Koppetsch, in dem sie sagte, dass es aufgrund der Komplexität der Probleme zunehmend schwierig geworden sei, moralische Einstellungen in politische Handlungen zu übersetzen, weil man einerseits zwar Weltoffenheit postuliere, aber andererseits nicht wirk­lich zur Einschränkung des eigenen Lebensstils bereit sei. Die Folge dieses morali­schen Dilemmas sei, dass man sich Heroenfiguren schaffe, die dieses moralische Dilemma auflösen. Daraus erkläre sich die Popularität von so vermeintlich oder real kränklichen Figuren wie Greta Thunberg. Die zeitgenössische Heldenfigur ist also nicht mehr der starke, kampferprobte, unbezwingbare Herold, sondern eher ein moralisch guter, aber zerrissener, etwas schwächlich erscheinender Typus. Steht dieses Heldenbild in einer Kontinuitätslinie mit dem gewandelten Subjekt­bild der 1970er Jahre, das Sensibilität betonte? Was ist das Neue, wo sind die Differenzen zu den 1970er Jahren?

Ich habe ja schon versucht, einen Zusammenhang zwischen der Objektivität und der Subjektivität der Protestakteure herzustellen. Und die Protestakteure der späten 1960er unterschieden sich in dieser Hinsicht wiederum besonders stark von denen der 1950er Jahre. Letztere haben einfach politische Interessen verfolgt und etwa die Wiederbewaffnung oder die Ausrüstung der Bundes­wehr mit Atomwaffen verhindern wollen. Das besaß in subjektiver Hinsicht keine direkten Folgen für sie selbst und ihren Alltagshorizont. Das tangierte nicht die Frage, wie Beziehungen geführt werden sollten, die Geschlechterdif­ferenz spielte keine Rolle, ob man eine Familie gründen oder nicht gründen soll – das war alles dabei ausgeklammert. Im Grunde genommen war es die reine Reduktion auf ein bestimmtes politisches Ziel. Ende der 1960er Jahre wurde das Protestieren dagegen viel komplizierter; aber auch interessanter, weil man unter dem Einfluss verschiedener avantgardistischer Strömungen wie etwa der Situationisten bei Demonstrationen auch eine bestimmte Qua­lität der Performance, der Selbstinszenierung, aber auch der Provokation zu finden versucht hat. Man wollte nun experimentieren, sich neu erfinden und Grenzen ausprobieren. Es ging um das Austesten von Freiheitsmöglichkeiten. Das betraf die Sexualität, die sogenannten zwischenmenschlichen Beziehun­gen, die Geschlechterfrage, die dann zur Revolte der Frauen im SDS und zu vielem anderen mehr geführt hat. Insofern gab es also eine Interaktion zwi­schen der Verfolgung politischer Zielsetzungen und der Selbstveränderung. Dieses Modell ist in den darauffolgenden Jahrzehnten nicht mehr aufgege­ben worden. Der wichtigste Input war in den 1970er Jahren vermutlich die massenhafte Gründung von Wohngemeinschaften. Es hat zwar relativ wenige Versuche gegeben, der berühmt-berüchtigten Kommune I nachzueifern, weil das den meisten als zu radikal erschien. Aber als abgespeckte Form war die Wohngemeinschaft für Hunderttausende nach dem nur zu häufig autoritär strukturierten Familienleben eine Art von zweiter Sozialisationsinstanz und insofern eine ganz entscheidende biografische Station. Das wirkte auch über das universitäre, studentische und akademische Leben hinaus und besaß eine enorme soziale, kulturelle und subjektive Dimension. Dadurch ist eine ganze Generation maßgeblich verändert worden und dabei spielte die Verbindung zwischen einer selbstbestimmten Gestaltung des Alltagslebens und der Ver­folgung politischer Interessen eine zentrale Rolle. Diese Leute stellten zugleich fast immer auch ein Potenzial für politische Aktivitäten dar. Das hatte es vorher nicht gegeben und nun natürlich auch in dieser Hinsicht ganz neue Möglichkeiten erschlossen. Und davon hat sich eine veränderte Form der Subjektivität im Kontext des Politischen erhalten. Die gestiegene Bedeutung der Geschlechterdifferenz, bestimmter Formen von Anerkennungspolitiken, auch der Performances, des Auftretens, der Kommunikation, des Musikgeschmacks, ist nichts mehr, was nur ein Schattendasein führt. Früher waren das abgespaltene Teile des Privatlebens, genauer: der Freizeitgestaltung – man ging ins Theater, ins Konzert oder ins Kino, das eine hatte nichts mit den anderen Dingen zu tun. Aber das hat sich heutzutage grundlegend verändert und es gibt einen Spannungszusammenhang, der auch bei denjenigen zur Geltung kommt, die heutzutage als ganz junge Schülerinnen und Schüler unterwegs sind, um gegen die Klimakatastrophe vorzugehen. Die können ein Stück weit auf das rekurrieren, was man zuvor errungen und zum Gemeingut gemacht hat, nun eben auch für die jüngeren Generationen. Natürlich muss man die Protestakteure der 1970er Jahre von denen der angehenden 2020er Jahre unterscheiden. Das ist schon klar, aber dennoch ist diese zentrale Verbindung erhalten geblieben: die Verknüpfung zwischen Objektivität in der Verfolgung von Interessen und der subjektiven Dimension in der Gestaltung dieser Proteste.

Sehen Sie dennoch charakteristische oder zumindest benennbare Differenzen bei den Verhaltens- und Persönlichkeitsidealen?

Das würde ich bejahen. Greta Thunberg etwa eignet sich bis zu einem gewissen Grad deshalb als Galionsfigur der Fridays-for-Future-Bewegung, weil sie immer noch eher einem Typus von Kindlichkeit entspricht und für sich auch selber in Anspruch nimmt, dass die Erwachsenen endlich begreifen müssten, was sie und ihre Generation so sehr beunruhige. Sie versteht und bezeichnet sich dabei selber immer wieder als Kind. Das Bild, das sie von sich vermittelt, ist also eher das eines Schulkindes. Die andere wichtige Komponente, die sie ebenfalls stark verkörpert, ist die einer moralischen Instanz. Sie vertritt ihre Ziele mit einer enormen Bestimmtheit und Entschlossenheit. Sie sagt, das und das ist in der Klimakrise der Fall und ich muss mich so und so verhalten und wenn ich das nicht tue, dann verstoße ich gegen die Prinzipien der Klimarettung. Diese von einem Schulkind an den Tag gelegte Entschlossenheit beeindruckt viele Leute. Jedoch gibt es in der Bewegung Fridays for Future eine nicht zu unterschätzende Tendenz, sich von Greta Thunberg, soweit es irgendwie geht, abzulösen. Man will nicht immer wieder auf sie zurückgeführt oder womöglich reduziert werden.

Meines Erachtens hätte es eine Greta Thunberg am Ende der 1960er Jahre nicht geben können. Ich kann mir das jedenfalls nur schwer vorstellen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat es eine Reihe von Beispielen gegeben, die man mit ihr vergleichen könnte. So ist etwa 1992 auf einer UN-Klimakonferenz in Rio de Janeiro mit der Kanadierin Severn Suzuki eine zwölfjährige Schülerin aufgetreten, die unglaublich beeindruckend war. Nachdem sie vor den Ver­sammelten gesprochen hatte, hieß es anschließend nur, dass »ein Mädchen die Welt für eine halbe Stunde zum Schweigen gebracht« habe. Ihr war es also ein Vierteljahrhundert vor Greta Thunberg gelungen, in Sachen Klimapolitik für ein Ausrufezeichen zu sorgen. Allerdings war es ihr nicht gelungen, eine eigene Bewegung zu initiieren. Das ist bei Greta Thunberg nun ganz anders verlaufen. Ich glaube, dass man sie mit einer früheren Galionsfigur wie Petra Kelly vergleichen kann. Ihr war zu Beginn der 1980er Jahre etwas ganz Ent­scheidendes gelungen: die Fusion zwischen der Ökologie- und der Friedensbe­wegung. Das war nicht unbedingt so ausgemacht. Sie hat damit die Vorausset­zung zur Gründung der Partei der Grünen geschaffen und insofern einerseits stark mit dazu beigetragen, dass die Grünen sich weiterentwickelt und politisch geöffnet haben. Andererseits war sie aber auch ein Bremsklotz. So hat sie sich vehement gegen das von der Bundestagsfraktion ihrer Partei praktizierte Rota­tionsprinzip gewehrt, im Gegensatz zu Joschka Fischer zum Beispiel, der ihm, wenn auch widerwillig, gefolgt ist. Petra Kelly verfügte damals ebenfalls über eine enorme Ausstrahlung. Und dabei spielten einige Aspekte eine Rolle, die sie trotz ihres Altersunterschiedes mit Greta Thunberg vergleichbar machen. Auch sie trat vor allem als eine moralische Instanz auf und wirkte jugendlich, beinahe mädchenhaft, ebenso unschuldig wie tugendhaft. Sie hat quasi-reli­giös im säkularen Raum gesprochen. Und das hat ihren Auftritten eine ganz eigene Qualität gegeben, bei der es auch nach ihrem tragischen Tod 1992 nicht übertrieben wäre, im Nachhinein von einer Aura zu sprechen.

Natürlich wissen wir nicht, wie das im Falle von Greta Thunberg weiter aus­gehen und wie das im nächsten Jahr aussehen wird oder darüber hinaus. Das hängt nicht zuletzt von der Interaktion zwischen Protest, Politik und Medien ab und welche Erfolge oder Misserfolge sich dabei einstellen. Doch das, was sie bislang als Schülerin anzustoßen vermocht hat, ist ein enormer Erfolg. Nie­mand hat zuvor das Thema Klimakatastrophe in der Weltöffentlichkeit so sehr besetzt wie sie – kein Wissenschaftler, kein Politiker und auch kein Vertreter irgendeiner Protestbewegung. Das ist wirklich ein Ereignis, wie ich kein ver­gleichbares in der jüngeren Protestgeschichte kenne. Dennoch sollte man Greta Thunberg nicht idealisieren und gleichsam zu Tode feiern. Die Tatsache jedoch, dass es unter Umständen selbst einem kleinen Schulkind möglich ist, zu einem bewegungspolitischen Ereignis zu werden, sollte einen hoffnungsvoll stimmen.

Das Gespräch führten Matthias Micus und Marika Przybilla-Voß.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2019 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2019