»Was als normal gilt, kann nicht mehr problematisiert werden« Gespräch mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer über Deutsche Zustände, Parallelgesellschaften und die Lockungen des Linkspopulismus

Interview mit Wilhelm Heitmeyer

Was waren die Folgen der geballten Krisenerfahrungen und Unsicherheitsgefühle?

Auf der einen Seite zeigt sich hier die Entwicklung zu einer »rohen Bürgerlichkeit« hinter einer noch weitgehend glatten Fassade mit geschliffenen, aber doch massiven Worten im Lodenmantel, wenn man so will. Und auf der anderen Seite stehen diejenigen aus den unteren sozialen Gruppen, die sich lautstark beteiligen. Nach der Finanzkrise ist die Bedeutung rechtspopulistischer Einstellungen jedenfalls deutlich angestiegen. Und das war noch vor »Pegida« und auch vor der AfD in ihrer jetzigen Verfassung! Das heißt, das Potenzial war bereits durch die Demokratieentleerung samt gefühlter Einflusslosigkeit im Rahmen von Vertrauensverlusten da. Diese Empfindung von Einflusslosigkeit ist zwischen 2009 und 2011 – immer noch auf der individuellen Ebene, bis dato ohne verbindende politische Formation – dann deutlich gestiegen. Einflusslosigkeit ist immer eine wichtige Voraussetzung für Wut, ebenso für individuelle Gewaltbereitschaft. Ein drittes Moment ist die Bereitschaft zur Teilnahme an Demonstrationen. Die ist in dieser Zeit merklich angestiegen. Und dann ist es offensichtlich den rabiaten Mobilisierungsexperten von »Pegida« gelungen, aus diesen individuellen Ohnmachtsgefühlen kollektive Machtfantasien zu entwickeln, wie das bei den Demonstrationen insbesondere in Dresden und dann bei den verschiedenen Ablegern deutlich geworden ist. Hinzu kam noch die AfD. Angesichts dieser Prozesse haben wir frühzeitig versucht, deutlich zu machen, dass die tiefe Verunsicherung individueller Art und die Entsicherung schützender Strukturen zusammengewirkt und sich zu einem explosiven Dauerzustand verfestigt haben. Es ist eine Nervosität und auch an vielen Stellen Bitterkeit sichtbar geworden, die ich so in den 1990er Jahren eigentlich nie gespürt habe: ein Wandel des politischen Klimas, der von der politischen Seite, von den politischen Eliten, kaum wahrgenommen wurde. Da gab es ganz eindeutig eine selektive Unaufmerksamkeit. Die Politik hat ja erst auf diese schleichenden Prozesse reagiert, als sich das parteiförmig verbunden hat und sichtbar geworden ist; aber auf soziale Bewegungen reagierte sie zunächst nicht.

Wie erklären Sie sich das?

Das Problem der schleichenden Prozesse, die dann eskalieren, kann man auch auf andere Phänomene wie den Rechtsextremismus beziehen. Wir haben dazu ein Eskalationsmodell ausgehend von den Einstellungsmustern, also der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, aufgestellt. Das kann man sich bildhaft wie eine Zwiebel vorstellen: Die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist dabei die äußere Schale; die nächste Schale sind dann rechtspopulistische Bewegungen und die AfD, die solche Einstellungsmuster aufsaugen, ohne dass in diesen Bewegungen mit Gewalt operiert wird. Aber sie liefern gleichzeitig Begründungen für die nächste, kleinere Schale, nämlich systemfeindliche Milieus, die sich herausbilden und sehr wohl mit Gewalt operieren. Ob es die Partei »Die Rechte« ist, die sich jetzt zu formieren versucht, oder auch die NPD: Man hätte sich viel mehr um diesen bewegungsförmigen Rechtsextremismus kümmern müssen, der sehr agil ist und sich offensichtlich mit juristischen Mitteln nicht unterbinden lässt, weil die Akteure hinzugelernt haben in dem Sinne, dass sie unter dem juristischen Radar verschwinden. Das Eskalationsmodell geht dann weiter bis in die Kameradschaften, die hochgradig gewaltaffin sind, bis hinein in die Unterstützungsgruppen des Terrors. Zwar gab es in der Tat 1992 vor dem Hintergrund der Asylbewegung die berüchtigten Angriffe und brennenden Häuser. Aber das war so ein Peak, der sich später zwar, was Straftaten in diesem Bereich angeht, auf höherem Niveau eingependelt hat – aber nicht in der Breite und mit den Mentalitäten wie derzeit. Diese sind ein Kennzeichen der Nullerjahre, das Ralf Dahrendorf in die Debatte eingebracht hat mit der Formel: Wir stehen am Anfang eines autoritären Jahrhunderts. Und da versuche ich jetzt in der Fortschreibung von 2001, vor dem diagnostizierten Hintergrund des riskanten Verhältnisses von autoritärem Kapitalismus und liberaler Demokratie, die autoritären Versuchungen zu verdeutlichen. Und man muss ja nur nach Ungarn oder Polen, nach Österreich und anderswo schauen, um festzustellen, dass immer stärkere autoritäre Angebotsstrukturen existieren, die in der Bevölkerung mit neuer Unterwürfigkeit und Folgebereitschaft verbunden sind.

Sehen wir nicht aber andererseits auch das genaue Gegenteil von Folgebereitschaft in Form einer neuartigen Schärfe der Elitenkritik? Und ist nicht in etlichen Organisationen und Institutionen eine Tendenz zur stärkeren Mitbestimmung der Basis erkennbar? Steht das nicht im Widerspruch zu der Diagnose vom autoritären Jahrzehnt?

Dieses Postulat von Dahrendorf zielte natürlich sehr auf die systemische Frage. Die Debatten im Feuilleton sind voll seit einiger Zeit: Woher kommt die Stärke des Autoritären? Beispielsweise wird in Russland unter Putin die Rechtssicherheit ebenso wie die Pressefreiheit ausgehöhlt. Mein Problem ist die Ungleichzeitigkeit. Politische Eliten reagieren erst, wenn bestimmte Zeitfenster für Interventionen im demokratischen Sinne von Partizipation, längst geschlossen sind, weil der Vertrauensverlust bei den Bürgern sich verfestigt hat. Hinzu kommt, dass wir, glaube ich, immer stärker in unseren Blasen und Echokammern leben und uns da gar nicht mehr herausbewegen. Es vollziehen sich bestimmte Entwicklungen, die wir auch gar nicht mehr beherrschen können. Beispielsweise in den sozialen Netzwerken: Diese sind einmal mit großen Hoffnungen auf die Demokratisierung der Gesellschaft entwickelt und propagiert worden, nun allerdings nicht mehr zu kontrollieren. Im Zuge dessen werden ganz andere, bisweilen eher asoziale Öffentlichkeiten hergestellt. Man kann den alten Begriff von Habermas nehmen, »Strukturwandel der Öffentlichkeit«, der mittlerweile aber eine ganz andere, unbeherrschbare Konnotation hat.

Mir geht es darum, schleichende Prozesse mehr zu beachten und nicht mit einer selektiven Unaufmerksamkeit durch die Gegend zu laufen, sondern die Normalisierungsmechanismen zu beschreiben. Denn das Gefährliche ist, dass alles, was als normal gilt, nicht mehr problematisiert werden kann. Man kann sich sehr schnell von Extremen, der NPD oder meinetwegen auch der AfD, distanzieren mit ein paar moralischen Floskeln und schon ist man auf der richtigen Seite. Die Distanzierung vom Normalen fällt sehr viel schwerer. Denn wir wollen alle irgendwie zur Normalität dazugehören. Und diese Verschiebung von Normalitätsstandards, das ist meines Erachtens erst in den Nullerjahren, vor allem auch über das Medium Internet, in Gang gekommen. Das hat es in den 1990er Jahren so nicht gegeben. Der entscheidende Punkt ist, dass bestimmte Zeitfenster nicht gesehen worden sind bzw. auch von großen Teilen der Eliten diese Unaufmerksamkeit etwa gegenüber unseren Diagnosen und Warnungen gegeben war. Denn da ging es ja um keine Terrorfälle, welche die Öffentlichkeit kurzzeitig aufschrecken, sondern um die Frage: Was verschiebt sich da und aus welchen Gründen? Die Theorie der sozialen Desintegration liefert für das Verständnis der Situation zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten. Neuerdings wird darüber gestritten, ob man versäumt hat, Klassenpolitik oder Soziallagenpolitik statt Identitätspolitik in den Mittelpunkt zu rücken. Ich halte diese Gegenüberstellung, das Entweder- oder, für falsch; denn es sind durchaus unterschiedliche Dinge, die da falsch gelaufen sind. Unsere Gesellschaft geht nicht den Bach runter, weil die Grünen sich bloß um gemeinsame Toiletten gekümmert haben. Dahinter liegen meines Erachtens vielmehr der Vertrauensverlust in die Politik und das Nicht-wahrgenommen-werden. Das ist ja das Schlimmste: Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. Darin liegt die Anziehungskraft populistischer und autoritärer Bewegungen. Meine These ist, dass viele der »Pegida«-Mitläufer gar nicht hinhören, was da auf dem Lautsprecherwagen gesagt wird, sondern dass das Wichtigste schlicht das Gemeinschaftsgefühl ist, der Eindruck, Teil einer großen Gruppe, eines Kollektivs, zu sein. Die sozialen Verschiebungen und die Vertrauensverluste in Institutionen, gekoppelt mit Desintegrationsbefürchtungen, die können wir über die Jahre kontinuierlich belegen. Das müssen gar keine harten Desintegrationserfahrungen sein, Desintegrationsgefühle oder -ängste reichen völlig aus.

Worin sehen Sie mögliche Mechanismen in der Politik, auf solche Krisen zu reagieren?

Die Grundthese ist, dass sich schon vor Beginn und dann natürlich im weiteren Verlauf der Nullerjahre das Verhältnis zwischen Politik und Kapital durch einen Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik auf der einen und den Kontrollgewinn des Kapitals auf der anderen Seite neu tariert hat. Der nationalstaatliche Kontrollverlust resultiert daraus, dass der autoritäre Kapitalismus seine Maxime durchsetzen kann, derzufolge sich Unternehmen und Arbeitsplätze jeweils in dem Land mit den niedrigsten Lohnkosten ansiedeln. Das ist die eine Seite. Auf der Seite der Politik gab es – und das ist auch ein Teil des heutigen Problems – die Denationalisierung und die Einbettung in größere Verbände, die aber für die Menschen undurchschaubar sind.

Wie zum Beispiel die EU?

Ja, auch – und wer weiß schon in der Bevölkerung, was IWF heißt? Es sind die Anonymisierungen von Institutionen, die sich die Leute nicht mehr erklären und folglich auch nicht mehr mit Personen, mit Gesichtern in Verbindung bringen können. Diese Denationalisierung und Anonymisierung ist eines der zentralen Themenfelder bei der Untersuchung der Ursachen autoritärer Versuchungen; des Weiteren die soziale Desintegration; zudem das Gefühl der kulturellen Überfremdung; und schließlich die politische Entfremdung. Wenn dann noch Formeln postuliert werden wie von Angela Merkel jene der »marktgerechten Demokratie«, dann wird der ganze Wahnsinn der Vermischung vormals stärker getrennter Sphären so offensichtlich wie problematisch: Der Markt formuliert, was demokratisch nötig ist, und die Demokratie ist die Dienerin des Marktes. Das kapitalistische System selbst hat sich – durch die Öffentlichkeit sekundiert – in einen gesichtslosen, demokratieaushöhlenden Besitzerkapitalismus gewandelt, der sich dem Gemeinwesen nicht mehr verpflichtet fühlt. Das kann man auch auf den Immobilienmarkt übertragen: Es ist ja eine interessante Überschneidung, dass der Protest ausgerechnet in Dresden kulminiert, in einer Stadt, die sich von ihren Schulden freigekauft hat, indem sie den gesamten sozialen Wohnungsbau an einen amerikanischen Investor verkauft hat, der sich für das Funktionieren des Gemeinwesens nicht interessiert und dies in der Logik des hier Vorgetragenen auch nicht soll und darf. Kurzum: Wir sehen eine Verschiebung der Kontrollmöglichkeiten. Das ist meines Erachtens in den Nullerjahren richtig auf Touren gekommen und hat dann die beschriebenen Auswirkungen gezeitigt. Deshalb die These, dass der Gewinner dieses Prozesses von autoritärem Kapitalismus, sozialer Desintegrationsbefürchtung und Demokratieentleerung der Rechtspopulismus ist.

Das Interview führten Matthias Micus und Marika Przybilla-Voß.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017