Denkkollektiv oder Klüngelsystem? Wissenschaftliche Schulen im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbeobachtungen

Von Ralf Klausnitzer

I Das Konzept »wissenschaftliche Schule« und seine Erforschung

Der Wissens- und Sozialverbund »wissenschaftliche Schule« (samt seinen Derivaten »Schulgründer« bzw. »Lehrer«; »Schüler« und »Schülerkreis«; »Aufnahme« bzw. »Initiation« und »Ausschluss« bzw. »Exkommunikation« etc.) partizipiert an den kognitiven und sozialen Dimensionen eines Sys­tems, das wie nur wenige andere Segmente der modernen Gesellschaft von interindividuellen Austauschprozessen und kollektiven Strukturen geprägt ist. Auf der Ebene der Wissensproduktion sind Verbindungen von forschenden Individuen schlichtweg notwendig: Um Kenntnisse methodisch produzieren und weiter entwickeln zu können, müssen Wissenschaftler sich von anderen gesellschaftlichen Akteuren abteilen und intern disziplinieren. Gruppen – ob projektbezogene Assoziationen, persönlich verbundene Gemeinschaften oder eben generationsübergreifende »Schulen« – fokussieren Forschungstä­tigkeiten durch fortgesetzte Segmentierung und treiben so die spezialisierte Bearbeitung von Themen voran. Innerhalb des Sozialsystems Wissenschaft stellt die Ausbildung von »Schulen« ein zentrales Moment der Weitergabe von Wissensbeständen, vor allem von Konzepten und Praktiken, Normen und Werten an nachrückende Generationen dar. Um es mit den Worten des pol­nischen Wissenschaftsforschers Ludwik Fleck zu sagen: Das »Denkkollektiv« der wissenschaftlichen Schule konditioniert den Nachwuchs durch Einübung in einen kollektiv geteilten »Denkstil«; es entscheidet durch Reputation und Einfluss über Karrierewege von Forschern und sichert mit dem eigenen Fort­bestand auch die Aufrechterhaltung der Gesamtveranstaltung Wissenschaft.

Eben diese Eigenschaften können aber auch zu Irritationen führen: Die oftmals invisiblen, weil informellen Kommunikationszusammenhänge zwi­schen Schul-Angehörigen haben nicht nur frühzeitig zu einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber scheinbar mafiösen Beziehungsnetzen beigetragen, son­dern eine genauere Ermittlung von »schulischen« Zusammenhängen er­schwert; die Konstruktion von Genealogien durch involvierte Wissenschaft­lerindividuen folgt immer auch eigenen Legitimationsbedürfnissen und kann nur durch reflektierte und materialgesättigte Rekonstruktionen auf sichere Fundamente gestellt werden.

Wichtige Beiträge dazu hat die Wissenschaftsforschung vor allem im 20. Jahrhundert geleistet. Entscheidende Anregungen gab die bereits 1935 von Ludwik Fleck vorgelegte Lehre vom »Denkstil« und vom »Denkkollek­tiv«,[3] die in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsauffassung des »Wiener Kreises« und dessen statischem Theoriebegriff die kollektive Organisation der Wissensproduktion thematisierte und als wichtiger Vorläufer von Tho­mas S. Kuhns vieldiskutiertem Buch über »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« angesehen werden kann.

Ausgangspunkt von Flecks Buch »Entstehung und Entwicklung einer wis­senschaftlichen Tatsache« ist die Überzeugung, dass bereits die fundamenta­len epistemischen Prozesse des Beobachtens an vorgängige Unterweisungen und Instruktionen durch eine »Denkgemeinschaft« gebunden sind. Dieses »Denkkollektiv« prägt mit spezifischen Erkenntnisinteressen, Schlussprinzi­pien und angewendeten Methoden einen »Denkstil« aus, der nicht nur Ex­perimentalanordnungen und implizite Praktiken anleitet, sondern sogar den »technischen und literarischen Stil« der in ihm sozialisierten Wissenschaftler dirigiert. Obzwar Fleck den Begriff der »wissenschaftlichen Schule« in seiner Schrift nicht explizit verwendet und nur an einer Stelle das Verhältnis von »Lehrer« und »Schüler« als hierarchische Gliederung eines »intrakollektiven Denkverkehrs« anführt, lassen sich seine Überlegungen gewinnbringend auf die Beobachtung von Schulen und Schulen-Bildung anwenden. Denn Fleck erkannte, dass »Denkkollektive« als stabile soziale Gruppen agieren, die sich formell und inhaltlich von anderen Wissenschaftlergemeinschaften abschließen. Ihre formelle Distinktion realisieren diese Gemeinden mit Auf­nahmeprüfungen, Sprachregelungen, Verhaltensregulierungen; die inhalt­liche Sonderung erfolgt durch eine quasi suggestive »Einweihung« der As­piranten in das Gedankengebäude des Denkkollektivs. Fleck war sogar der Meinung, dass diese »rein autoritäre Gedankensuggestion« der Initiation notwendig sei und nicht durch »allgemein rationellen Gedankenaufbau« er­setzt werden könne, da das System der Wissenschaft im Ganzen dem Neu­ling vollkommen unverständlich bleibe. Mit der formalen und inhaltlichen Abgeschlossenheit jeder »Denkgemeinde« korrespondieren epistemische Be­schränkungen: Wissenschaftliche Probleme werden strikt ausgewählt, dem eigenen Denkstil nicht entsprechende Fragestellungen als »Scheinprobleme« abgewiesen. So bilden sich Ansichten und Wertmaßstäbe aus, die die An­schauungen und Normen der eigenen »Schule« zur unhinterfragt geltenden Grundlage wissenschaftlichen Handelns verfestigen.

An diese Einsichten konnte Thomas S. Kuhn anknüpfen. In seinem Buch über »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« gilt die Existenz kon­kurrierender »Schulen« als Kennzeichen für eine krisenhafte Verfassung des Wissenschaftssystems.[4] Während Fleck von der Existenz unterschiedlicher »Denkkollektive« in allen historischen Abschnitten der Wissenschaftsentwick­lung ausging, sah Kuhn die Konkurrenz unterschiedlicher »wissenschaftlicher Schulen« als Kennzeichen einer »vorparadigmatischen« Verfassung des Wis­senschaftssystems an: Da etwa in der Physik vor Newton von der Antike bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts keine Einigung über das Wesen des Lichts gefunden worden sei, habe »eine Anzahl miteinander streitender Schulen und Zweigschulen« existiert; Newtons Begründung der Optik habe dann ein »Paradigma« geliefert, das alle theoretischen und methodischen Diskrepanzen und damit auch wissenschaftliche Schulen zum Verschwinden brachte. Von diesem Paradigma ausgehend, habe sich die nunmehr geeinte wissenschaft­liche Gemeinschaft auf die Lösung konkreter Aufgaben (»Rätsel«) konzen­triert; und erst wenn diese »normale Wissenschaft« wieder auf unauflösbare »Anomalien« stoße, bildeten sich erneut konkurrierende »Schulen« heraus.

Auf diesen Grundlagen fanden »wissenschaftliche Schulen« seit Beginn der 1970er Jahre verstärkte Aufmerksamkeit. In den sozialistischen Ländern, namentlich in der Sowjetunion und in der DDR, wuchs ihnen aufgrund wis­senschaftspolitischer Zielsetzungen besonderes Interesse zu; Schulbildungs­prozesse wurden hier vor allem unter dem Gesichtspunkt der Planbarkeit kollektiver Wissenschaftsprozesse beobachtet. Die auf Anforderungen der Gegenwart beruhende Erforschung »wissenschaftlicher Schulen« wurde in einem zweibändigen Sammelwerk mit Beiträgen von Forschern aus der UdSSR und der DDR explizit damit begründet, »unter den Bedingungen der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Revolution das kollektive Schöpfertum in Wissenschaft und Forschung zu untersuchen und zu höchs­ter Effektivität zu führen«[5].

Dagegen konzentrierten sich die im englischen Sprachraum verfolgten Recherchen auf das Verhältnis von Kontinuität und Varianz innerhalb eines durch Wandel strukturierten Wissenschaftssystems, das man mit der Kon­zeptualisierung von generationenübergreifenden Gruppenbildungen zu lösen versuchte. J. B. Morrells 1972 veröffentlichte Untersuchung zu den Schulen der Chemiker Liebig und Thomson war ein »Startschuss« zu historischen Ob­servationen,[6] die in Gerald Geisons Forschungsbericht von 1982 verzeichnet sind;[7] weitere theoretische Überlegungen und historische Recherchen folgten.[8]

Gegenwärtig konzentriert sich die Erforschung wissenschaftlicher Schulen auf deren Funktionen und Leistungen im Rahmen der komplexen Prozesse des Wissenstransfers.[9] Besondere Beachtung finden dabei die vielfältigen Praktiken, mit und in denen die aktive Weitergabe von Erkenntnissen rea­lisiert wird. Zu diesen gehören neben Instruktionen und Zeigehandlungen, ›zwingenden‹ Argumentationen und analysierenden Demonstrationen immer auch Regeln für den Umgang mit Kenntnissen, die in neuen (veränderten) Situationen angewendet und eingesetzt werden sollen und also zu Modifika­tionen von epistemischen Beständen führen. Ebenso eminenter wie schwer zu rekonstruierender Bestandteil von Wissenstransferprozessen bleiben die Vorgänge, mit denen Regeln der Regelanwendung weitergegeben und aufge­nommen, internalisiert und modifiziert werden.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 3-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014