Selbstoptimierung im Stadtformat Wie Darmstadt als Smart City in die digitale Zukunft schreitet

Von Michael Kulmus

Mit ihren übers Eck eingebauten Fenstern, halbrunden Formen und dem glatten Putz hebt sich die Reihenhaussiedlung Am Lindgraben wohltuend von den Einfamilienhauswüsten und Klötzchenbauten heutiger Tage ab. In der Stadt stehen einige Wohnanlagen des Reform- und Gartenstadtbauens der 1920er Jahre, die häufig von großen Unternehmen wie etwa Eisenbahngesellschaften für ihre Arbeiter errichtet wurden. Mit intelligenten, vernetzten Stromzählern sollen in der Digitalstadt zukünftig alle Bauten ausgestattet werden. Denn die braucht es für die Stromnetze der Zukunft, die sogenannten Smart Grids. Mit denen befassen sich Forscher der Hochschule Darmstadt. Eine digitale Steuerung stimmt Erzeugung, Speicherung und Verbrauch des Stroms optimal aufeinander ab und gleicht Leistungsschwankungen aus, insbesondere von Wind- und Sonnenenergie. Für eine dezentralisierte Stromerzeugung mit vielen Stromlieferanten sind diese Netze daher deutlich besser ausgelegt.[11] Für den Fluss der Datenpakete sorgt in der Innenstadt unter anderem ein frei verfügbares WLAN. Bald soll das Netzwerk auf ganz Darmstadt ausgeweitet werden und in allen Bussen und Bahnen funken. Außerdem gibt es ein dezentrales, nichtkommerzielles Freifunk-Netzwerk über die Router von Privatpersonen. »Das Freifunknetz ist ein offenes Netzwerk der Menschen in Darmstadt und speichert keine personenbezogenen Daten. Die WLAN-Netze der kommerziellen Anbieter sind nicht kostenfrei, sondern müssen mit Daten bezahlt werden«, erklärt Marco Holz. Gemeinsam mit der Stadt betreibt die Initiative unter anderem die WLAN-Zugänge der meisten städtischen Flüchtlingsunterkünfte.

Die Digitalökonomie fördere vor allem kurze Aufmerksamkeitsspannen und gefährde unsere Demokratie, erklärt der US-Philosoph Michael Sandel in einem Interview.[12] Im Silicon Valley sollen manche Tech-Arbeiter ihre Kinder extra auf Schulen schicken, in denen Smartphones und Tablets tabu sind. In Darmstadt gehe es »nicht einfach nur darum, den Schülerinnen und Schülern ein Tablet in die Hand zu drücken und das als Digitalisierung zu verkaufen«, erklärt Simone Schlosser. »Wir wollen vor allem die Medienkompetenz fördern und zum offenen Diskurs etwa über Cybermobbing und Medienkonsum anregen.« Dem pflichtet auch der Chaos Computer Club bei. Der Verein hält an Schulen Vorträge etwa zu digitaler Selbstverteidigung oder den grundlegenden Funktionsweisen des Internets. Digitale Bildung dürfe aber nicht nur von Freiwilligen abhängen, sagt Marco Holz. Laut Schlosser ist ein Digitallabor in der Stadt geplant. In diesem soll nicht nur der Umgang mit digitalen Medien vermittelt, sondern auch debattiert werden. Schüler seien heute ständig mit digitalen Medien konfrontiert. »Diese Realität müssen wir offen und kritisch erörtern«, sagt sie.

BÜRGERBETEILIGUNG PER APP

Jüngst hat die konservative Regierung in Großbritannien ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet, was sicher auch Kosten für das Gesundheitssystem der Insel senken soll. In der Digitalstadt Darmstadt soll hingegen eine Quartiersapp die Menschen zueinander bringen. »Auch diese Idee stammt aus einer Bürgerbeteiligung«, erläutert Schlosser. Nachbarn sollen sich damit vernetzen und so beispielsweise gemeinsam Feste im Viertel organisieren, oder auch nur Bohrmaschinen und Fahrräder teilen. Mängel im öffentlichen Raum, wie etwa Schlaglöcher, überfüllte Mülleimer oder defekte Straßenlaternen, teilen Bürgerinnen und Bürger schon seit einigen Jahren über eine Mängelmelder-App der Stadtverwaltung mit. Die Anwendung wurde in Darmstadt entwickelt und zum Exportschlager, sodass auch andere Kommunen die App mittlerweile nutzen. Die Funktionen sind seit kurzem auch auf einer digitalen Stadtkarte verfügbar. Ob und wie schnell die Verwaltung die jeweiligen Meldungen angeht, ist per Farbschema direkt ersichtlich.[13] Studierende der Hochschule Darmstadt entwickeln indes ihre Navigationsapp für Menschen im Rollstuhl weiter, die ebenfalls von Nutzerinnen und Nutzern mit Daten versorgt wird.

Im Abendlicht schimmern die goldenen Kuppeln der Russischen Kapelle in voller Pracht. Nebenan stehen der Hochzeitsturm und das Ausstellungsgebäude von Joseph Maria Olbrich, das wohl bekannteste Duo auf der Mathildenhöhe. Geformte Gärten, riesige Feuerleuchter, detailreiche Wohnund Atelierhäuser: Hier wurde kaum etwas dem Zufall überlassen. Wie in den Smart Cities. Was die Jugendstilkünstler oder Georg Büchner zur Digitalstadt gesagt hätten, wissen wir nicht. Könnte es sein, dass die bisherigen Konzepte nur Chancen für die Vornehmen des Digitalzeitalters, also Investoren und gut verdienende Fachkräfte bieten wie Kritiker behaupten? Wohnraummangel, Gentrifizierung oder soziale Spaltungen spielen in den Werbebotschaften der Techkonzerne jedenfalls keine Rolle. Dass Städte dynamische Gebilde sind, in denen auch Konflikte ausgetragen werden – wo sonst? – geht in den Investorenträumen unter. »Wir begrüßen, dass sich die Stadt dem Thema Digitalisierung annimmt, sehen aber noch viel Handlungsbedarf, gerade was die Themen Bürgerbeteiligung und Digitale Bildung angeht«, erklärt IT-Aktivist Holz. Für kleine und größere Updates scheint indes noch etwas Zeit. Die Digitalstadt wird Simone Schlosser zufolge »auch nach der Projektphase Ende 2019 nicht einfach die Türen schließen«.

 

[1] Zitiert nach. Rebecca Prion, So werden Sie ›Digitale Stadt 2017‹, in: kommunal.de, 02.12.2016, URL: https://kommunal. de/artikel/digitale-stadt [eingesehen am 15.04.2018].

[2] Vgl. Digitalstadt Darmstadt GmbH, Koryphäe für Cybersicherheit wird »Chief Digital Officer « der Wissenschaftsstadt, in: digitalstadt-darmstadt.de, URL: https://digitalstadt-darmstadt. de/koryphaee-fuercybersicherheit- wird-chief-digital-officer- der-wissenschaftsstadt/ [eingesehen am 15.04.2018].

[3] Hackathons (von »Hack« und »Marathon«) sind gemeinsame Soft- und Hardwareentwicklungsveranstaltungen.

[4] Vgl. Patrick Dax, »Niemand weiß, was Smart City bedeutet«, in: futurezone.at, 24.06.2014, URL: https://futurezone.at/ digital-life/niemand-weiss-wassmart- city-bedeutet/70.823.281 [eingesehen am 15.04.2018].

[5] Evgeny Morozov u. Francesca Bria, Die smarte Stadt neu denken. Wie urbane Technologien demokratisiert werden können, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hg.), Berlin 2017, S. 15.

[6] Vgl. Saskia Naafs, »Living laboratories«: the Dutch cities amassing data on oblivious residents, in: theguardian.com, 01.03.2018, URL: https://www. theguardian.com/cities/2018/ mar/01/smart-cities-data-privacy-eindhoven- utrecht [eingesehen am 20.04.2018].

[7] Vgl. Anette Rehn, Vorerst keine Online-Anträge auf Anwohnerparken, in: hessenschau.de, 04.01.2018, URL: https://www. hessenschau.de/panorama/sicherheitsluecke- vorerst-keine-online- antraege-auf-anwohner-parken, parken-sicherheitsluecke-100. html [eingesehen am 24.04.2018].

[8] Morozov u. Bria, Die smarte Stadt neu denken, S. 38 f.

[9] Vgl. Nina Scholz, »Für uns geht es gerade um alles«, in: freitag. de, 01.03.2018, URL: https:// www.freitag.de/autoren/der-freitag/ fuer-uns-geht-es-gerade-umalles [eingesehen am 13.04.2018].

[10] Siehe hierzu Deutsche Telekom AG, Die digitale Stadt Darmstadt parkt smart, 28.06.2017, URL: http://connectedcar. telekom-dienste. de/node/28 [eingesehen am 20.04.2018].

[11] Vgl. Peter Carstens, Das Stromnetz der Zukunft, in: geo.de, 22.10.2012, URL: https:// www.geo.de/natur/oekologie/ 3245-rtkl-modellstadt-mannheim- das-stromnetz-der-zukunft [eingesehen am 02.05.2018].

[12] Vgl. Anna Sauerbrey (Interview mit Michael Sandel), »Das digitale Zeitalter bedroht die Demokratie«, in: tagesspiegel. de, 16.06.2016, URL: https:// www.tagesspiegel.de/kultur/ us-philosoph-michael-sandeldas- digitale-zeitalter-bedrohtdie- demokratie/13739332.html [eingesehen am 03.05.2018].

[13] Vgl. Claudia Kabel, Beschwerde per Mausklick, in: fr.de, 01.02.2018, URL: http://www.fr.de/rhein-main/ alle-gemeinden/darmstadt/ darmstadt-beschwerde-per- mausklick-a-1439056 [eingesehen am 03.05.2018].

 

 

 

 

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201