»Digitalisierung bedarf des aufgeklärten Bürgers« Ein Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt über Digitalisierung und die Grenzen des digitalen Diskurses.

Interview mit Wolfgang M. Schmitt

Sehen Sie sich, sozusagen als Hybrid zwischen Analogem und Digitalem, selbst als Profiteur oder eher als Kritiker der Digitalisierung und des Digitalen?

Ich bin ganz klar beides. Ich bin natürlich Profiteur einer Plattform, die mir die weitgehend einmalige Möglichkeit bietet, frei von irgendwelchen Zwängen jede Woche eine Filmanalyse machen zu dürfen. Ebenso erfahre ich durch YouTube eine gewisse Popularität, die über die Plattform selbst hinausreicht, etwa wenn ich für Vorträge eingeladen werde oder Artikelanfragen erhalte. Gleichzeitig weiß ich, dass diese Freiheit natürlich auch ein Trugschluss ist, denn sie bedeutet zum einen noch lange nicht, dass ich wahrgenommen werde. Zum anderen muss man muss sich auch bewusst sein, dass diese Plattform von Google zur Verfügung gestellt wird – die Infrastruktur also von einem Konzern stammt, dessen Geschäftspraxis ein halbwegs links denkender Mensch kritisieren muss. Nur ist das natürlich ein generelles Problem der Publikation heute: Wo lässt sich denn heute, ohne letztlich dem Großkapital in die Hände zu spielen, noch publizieren? Kleine Verlage werden immer weniger und anhand der Open-Access-Ideologie zeigt sich gerade ganz deutlich, dass auch hier die Big Player, etwa Springer Nature, die Plattformen stellen. Die Autoren werden enteignet, die Großverlage verdienen. Gerechtfertigt durch linksliberale Slogans, die von einer »Demokratisierung des Wissens« faseln.

Heraushalten und beschließen, der digitalen Welt den Rücken zuzukehren, käme in Anbetracht der Omnipräsenz sozialer Medien wohl einer Kapitulation gleich. Zudem findet doch tatsächlich sehr viel Gutes in der digitalen Welt statt. Dies zu entdecken, selbst Redakteur zu werden und eigenverantwortlich auszuwählen, was wichtig ist, statt dies passiv Zeitungsredaktion und Algorithmen zu überlassen, scheint mir der bessere Weg. Es ist eine interessantes Phänomen, dass die Weigerung sein eigener Redakteur zu werden, oftmals einhergeht mit einer fundamentalen Kritik, einem sich reiben an jener Idiotie, die natürlich überall dort stattfindet. Für mich beispielsweise ist Twitter, was soziale Medien anbelangt, das beste Medium, weil sich dort tatsächlich sehr viele Hinweise auf gute Artikel finden lassen, auch weil dort viele Wissenschaftler und Journalisten vertreten sind. Natürlich können dadurch eben jene Filterblasen entstehen, gegen die so viele wohl nicht gänzlich zu Unrecht polemisieren. Zugleich ist – und da hat Jodie Dean sicherlich recht – eine solche Filterblase, so sie nicht unhinterfragt bleibt, zum einen eine Chance den großen Informationsfluss sinnvoll zu kanalisieren. Und zum anderen ist das Phänomen ja keineswegs beschränkt auf die digitale Welt, auch in der analogen Welt kann ich Information und Weltanschauung selektiv konsumieren.

Dieser sehr bewusste Umgang mit Information scheint in der digitalen Welt dennoch eine noch größere Herausforderung, vor der nicht wenige zurückschrecken, gar überfordert sind. Braucht es, um dem entgegen zu wirken, ein Lernangebot für die Digitalisierung innerhalb der Gesellschaft?

Absolut. Die Digitalisierung kommt eigentlich zu einem Zeitpunkt, an dem der Bürger, aufgrund einer sehr falschen Bildungspolitik in den letzten Jahren und Jahrzehnten, ein sehr falsches Verständnis von dem entwickelt und inkorporiert hat, was ein Bürger, eine Demokratie zu sein hat. Jetzt kommt die Digitalisierung und die bedarf eigentlich eines aufgeklärten Bürgers, einem, wie Habermas das sagen würde, räsonierenden Publikum und nicht einem lediglich konsumierenden.

Diesen Umschwung beschrieb Habermas bereits für die 60er-Jahre, als die bundesrepublikanische Wirklichkeit, verglichen zu heute, gleichwohl noch wesentlich kritischer im Umgang mit Informationen war, überdies auch viel weniger Informationen zur Verfügung hatte. Heute führt das Effizienzdenken gerade im Bildungssektor dazu, dass immer weniger Menschen in der Lage versetzt werden zu sich selbst in Distanz zu treten und kritisch zu hinterfragen. Dieser in gewisser Weise politisch gewollte Umschwung wird durch die vielen Polit-Talkshows, die im Prinzip das Parlament aushöhlen, verstärkt. Um wieder einen kritischen wie vernünftigen Umgang mit der Informationsflut zu ermöglichen, bräuchte es deshalb zunächst eine radikale Bildungsreform, eine, die den kritischen Geist stärker in den Mittelpunkt rückt, der das bürgerliches Subjekt wieder in die Lage versetzt, sich auseinanderzusetzen und wirklich in einen Diskurs zu treten. Wir brauchen aber auch Intellektuelle, die im Sinne eines kritischen Redakteurs, die Informationen kanalisiert und ordnet, gerade für jene, deren überschaubares Zeitbudget mit einer unüberschaubaren Informationsflut kollidiert. Schließlich gehen viele Menschen Berufen nach, die mit der Medienwelt, mit der Welt der Geisteswissenschaften oder der Politik fast gar nichts zu tun haben, die abends nicht unbedingt die Zeit haben, sich drei, vier Stunden mit verschiedenen Zeitungen auseinanderzusetzen, die nicht die einzelnen Positionen von Redakteuren oder Autorennetzwerken kennen und deshalb nicht jede Äußerung einordnen können. Deshalb geht es heute mehr denn je darum, als Intellektueller auch als Vertrauensfigur aufzutreten und ein Angebot zu schaffen. Das bedeutet aber auch, als Person in Erscheinung zu treten und Reibungspunkte zu bieten. Und das ist meine Hoffnung, dass dies vielleicht mehr Menschen machen und dass erkannt wird, was für ein kritisches wie demokratisches Potenzial in solchen Plattformen liegt. Das könnte dann auch so weit gehen, Plattformen, welche solche Sortier- und Einordnungsangebote machen, staatlich zu unterstützen, um tatsächlich so etwas wie ein öffentlich- rechtliches Internet zu ermöglichen. Allerdings müssten hier Kontrollmechanismen wirken und die Politik sich zugleich, noch viel mehr als im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, heraushalten, um so eine stärker bürgerliche Öffentlichkeit zu schaffen als dies momentan der Fall ist, wo Politiker mit ihrer Nutzung von sozialen Medien, etwa um Stimmen zu sammeln und sich zu bewerben, dies konterkarieren.

Die Auseinandersetzung mit digitalen Themen und die Auseinandersetzung in digitalen Medien braucht jedenfalls weit mehr als das rücksichtslose und unkritische Marschieren durch die sozialen Medien. Es ist ebenso erstaunlich und problematisch, wie affirmativ manche Politiker etwa Instagram bedienen, wo sie sich genau in diese Ästhetik einpassen und krude Hashtags setzen.

Dieser Gedanke an digitale Leitmedien: Ist das nicht eine allzu nostalgische Erinnerung an die Formate mit Günter Gaus, in denen Leute wie Hannah Arendt gesprochen haben?

Es kann natürlich nicht ein digitales Leitmedium geben. Es gibt digitale Plattformen – nicht nur YouTube-Kanäle, sondern auch Blogs oder Podcasts – die sehr stark frequentiert werden und die unglaublich gute Programme machen, die sich kritisch mit digitalen, politischen oder wirtschaftlichen Themen auseinandersetzen. Ob man das auf irgendeine Weise interessanter bündeln kann und ob man dort tatsächlich so etwas wie ein solidarisches Netzwerk errichten kann, ist aufgrund des derzeitigen Konkurrenzdrucks natürlich fraglich. Ich glaube allerdings schon, dass sich einige Gruppen stärker zusammentun könnten. Ebenso denke ich, dass das Problem nicht aus den digitalen Medien heraus vollkommen gelöst werden kann, sondern es muss schon eine gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Veränderung geben. Die soziale Lage eines jeden Einzelnen muss es ermöglichen, zum kritischen Bürger zu werden. Diese Verantwortung kann man nicht all den Produzenten, die im Internet tätig sind, zuschieben. Das ist, als würde man Lehrern sagen, sie sollten dafür sorgen, dass die Bildung aufrechterhalten wird, aber ansonsten torpediert man alles, was Bildung anbelangt. Solange Technik nicht politisch begriffen und nicht deren Potential bemerkt wird, sondern in Solutionismus – also jene Silicon-Valley-Denke, wonach es für jedes Problem eine technische Lösung gäbe, auch wenn das Wissen über die komplexen Folgen der Erfindung noch gar nicht bekannt ist – verharrt wird, kann es keine diskursfähigen digitalen öffentlich-rechtlichen Leitmedien geben.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201