Die restaurierte Republik Historisierender Staatsbau als Spaciocide [1]

Von Orhan Esen

Augenblicklich befindet sich die Türkei auf der Suche nach einer gebauten Identität für eine »Neue Türkei«. Im Zentrum dieses Bemühens steht nicht zuletzt der zentrale Taksim-Platz in Istanbul, der symbolischen Hauptstadt der Türkei. Hier soll die »Neue Türkei« buchstäblich gebaut – ihre Verfassung in Stein gemeißelt werden. Die Oper am Taksim, eine bauliche Ikone der Nachkriegsmoderne, soll dazu einem Neubau weichen, der laut dem türkischen Präsidenten Erdog˘an »mit barocker Architektur in Einklang stehen«2 wird. Den Auftakt zum Umbau sollte ursprünglich der umstrittene Wiederaufbau der 1940 abgerissenen Artilleriekaserne auf dem Gelände des angrenzenden Gezi-Parks bilden. Dieses Vorhaben ist jedoch angesichts des massiven Gezi-Protests im Juni 2013 bislang gescheitert. Erdog˘an betont indes bei jeder Gelegenheit, dass er nicht nachgeben werde – der seit Jahrzehnten angestrebte, ebenfalls stark umstrittene Moscheebau am Taksim, der im Februar 2017 begonnen hat und sich architektonisch an Beispielen des 19. Jahrhunderts orientiert, verweist jedenfalls auf den Durchsetzungswillen des türkischen Staatsoberhauptes.

Die Artilleriekaserne am Taksim ersetzte 1806 einen abgebrannten kurzlebigen Vorgängerbau aus dem späten 18. Jahrhundert. Die Kaserne war, vor allem an ihrer Fassade, mehrmals umgebaut, nachträglich auch »orientalisiert« worden, ehe sie im 20. Jahrhundert demilitarisiert und von Kulturschaffenden und Sportlern zivil genutzt wurde. 1940 wurde sie im Rahmen der kemalistischen Stadtumbauprozesse im Maçkatal und auf dem Taksim-Hügel abgetragen. Sollte hier ursprünglich das Hauptquartier des Einparteienregimes entstehen, wurde stattdessen auf den noch sichtbaren Fundamenten der Gezi-Park, die Promenade von Taksim, errichtet. Der geplante Neubau setzt nun an den Fassadenarbeiten des 19. Jahrhunderts an. Dadurch wird jedoch die Fassade von der Architektur entkoppelt und damit eine neue anti-intellektuelle Disziplin, die »Außenarchitektur«, etabliert. In der Fachwelt mag diese Entwicklung Entsetzen hervorrufen, das Potenzial einer über die Fachgrenzen hinausreichenden Unterstützung hat sie aber dennoch. Denn die globale Volksweisheit, der zufolge zu bauen Sache der Bauleute sei, d. h. der Ingenieure oder Baufirmen, und auf Architekten für gewöhnlich verzichtet werden könne, ist in den politischen Entscheidungsgremien inzwischen so populär wie nie. [...]

[1] Durch die Indes-Redaktion um ca. 55 % gekürzte Version des Manuskripts »Historisierender Staatsbau als Spaciocide. Symbolische Ergründung der Stadtmitte nach dem Kalten Krieg«. Die Urschrift untersuchte »… vor allem die Frage inwiefern sich die Türkei auch auf […] bauliche Art und Weise inner- oder außerhalb Europas positioniert.« Zu diesem Zwecke wurden Berlin und Istanbul komparativ untersucht: Die Parallelen zwischen dem erfolgten Abriss des Palastes der Republik zu Berlin und der von Recep Tayyip Erdoğan bezweckte Abriss des Istanbuler Kulturpalastes am Taksim, zwei in Funktion, Architektursprache und ikonografischem Stellenwert vergleichbare Bauten des kalten Krieges, sowie der erfolgte historisierende Wiederaufbau des Stadtschlosses auf der Spreeinsel und der aufgrund des Geziaufstandes gescheiterte historisierende Wiederaufbau der osmanischen Artilleriekaserne am Taksim bildeten das Rückgrat des Urmanuskripts. Der Wiederaufbau, der in Deutschland erfolgreich zu einer »Fachdebatte zwischen unterschiedlichen Schulen des Denkmalschutzes« marginalisiert werden konnte, stand in der Türkei stets als »im Wesen politische Entscheidung« da. Das Urmanuskript und die veröffentlichte Redaktionsversion unterscheiden sich in den zusammengefassten Segmenten um Nuancen und Akzentsetzungen; und manche Gedankensprünge blieben unvermeidbar. Der Urtext bildet, um weitere Abschnitte erweitert, den Kern einer eigenständigen Publikation im Entstehen. [...]

[2] Offizielles Statement Erdoğans während des Gezi-Aufstandes: »Barok mimariyle bütünlük arz edecek şekilde buraya dev bir opera binası yapalım«, zit. nach o.V., »AKM yerine ›Barok‹ bir opera binası!«, in: gazetevatan.com, 08.06.2013, URL: http://www.gazetevatan. com/-akm-yerine--barok- -bir-opera-binasi---544347-gundem/ [eingesehen am 31.05.2017].

 

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. -201 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 201