»Schluss mit der Klassengesellschaft!« Ein Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx über die Substanz der christlichen Botschaft und ihren Beitrag zur Lösung der europäischen Identitätskrise

Interview mit Reinhard Marx

Obwohl das Gros der Flüchtenden Kulturen entstammt, in denen Christen diskriminiert, bisweilen gar verfolgt werden?

Papst Franziskus hat diesbezüglich ein bemerkenswertes Zeichen gesetzt. In Mailand war kürzlich ein großer Gottesdienst, und da ist er vorher in ein Neubaugebiet gefahren mit Wohnblöcken und hat dort zwei christliche und eine muslimische Familie besucht. Fertig, ohne Worte, ein Zeichen! Das ärgerte natürlich manchen Konservativen, auch in kirchlichen Kreisen, wo über den Zustrom von Muslimen geklagt wird – als entscheidendes Kennzeichen des Menschen wird hier nicht sein Menschsein gesehen, sondern seine Religionszugehörigkeit. Unvorstellbar eigentlich, was für einen Rückschritt das darstellt! Das heißt nicht, dass wir nicht auch nüchtern schauen, was es in der Religion für Gefährdungen gibt. Aber Menschen zu kategorisieren nach ihrer Religion und dann zu sagen, deswegen bist du für mich kein Thema, weil du Muslim bist, weil du katholisch bist, weil du Jude bist, das darf nicht sein. Dagegen anzugehen, ist auch und gerade eine Aufgabe des Christentums, der christlichen Ökumene, die in dieser Hinsicht als Vorbild fungieren kann, weil sie die Kategorisierung nach protestantisch und katholisch aufhebt. Auch deshalb denke ich, dass das Christentum zukünftig noch viel wichtiger wird, als manche im Augenblick vermuten.

Was kann denn das Christliche bzw. die Katholische Kirche leisten, um die Identitätskrise Europas aufzulösen, bestehende europäische Identitätsunsicherheiten zumindest abzumildern?

Zum einen wohnt der Kirche natürlich eine gewisse Kraft der Erinnerung inne. Sie lebt mit einer großen Geschichte und ist auch eine Institution, die nicht im »Zeit-Geist-Tempo« geht. Das geschichtliche Erbe an positiven Zeugnissen kann man für eine europäische Erzählung fruchtbar machen, wenn es nicht nostalgisch verklärt wird im Sinne der angeblich guten, alten Zeiten. Und dann ist da natürlich die Verkündung der großen Botschaft: Die Katholische Kirche hat nichts anderes zu verkünden als die Freiheitsgeschichte Gottes mit den Menschen – eine Hoffnungsgeschichte, die unvergleichlich ist. Der christliche Gott ist ein Gott, der leidenschaftlich in die Welt verliebt ist und das deutlich macht an dieser Geschichte Jesu von Nazareth, die wir immer wieder erzählen und für die wir einstehen müssen. Das ist unser Beitrag für das, was Europa sein kann und sein wird und was noch immer von den mehr als zwei Dritteln der Menschen in Europa, die Christen sind, geteilt wird. Wir können diesen Kontinent und das, wie in den letzten Jahrhunderten in Europa gelebt und gewirkt wurde und was wir auch an Zukunftsfantasien im Kopf haben, ohne die Bibel, ohne das Christentum nicht verstehen. Wir müssen uns dazu verhalten, letztlich unabhängig davon, ob jemand gläubig ist oder nicht. Ich kann nicht aussteigen aus dieser Geschichte und sagen: Ich nehme ein weißes Blatt und denke mir ein neues Projekt Europa aus. Das ist nicht möglich, weil die Menschen alle mit ihren Lebensgeschichten hineinkommen. Und die überwältigende Zahl dieser Lebensgeschichten ist weiterhin – stärker oder schwächer – vom christlichen Glauben geprägt. Insofern stehen wir hier vor der großen Aufgabe, das christliche Fundament Europas deutlich zu machen und daran festzuhalten, dass Europa, wie der Papst es sagt, ein Projekt der Freiheit, der verantwortlichen Freiheit ist und das christliche Menschenbild der Kern der europäischen Lebensweise. Warum sollte Gott Mensch werden, wenn er sich nicht für die Menschen interessiert? Radikaler kann ich doch mein Interesse an den Menschen, und zwar an allen Menschen, nicht zum Ausdruck bringen. Oder wie Benedikt XVI. es einmal schlicht und schön gesagt hat: Wenn Gott Mensch wird, dann ist es gut, ein Mensch zu sein.

Lassen Sie uns abschließend in die politischen Niederungen eintauchen. Eigentlich sollten sich Kirchenvertreter parteipolitisch zurückhalten, so haben Sie es 2013 gegenüber der Zeit geäußert. Und jetzt nimmt man Sie sehr deutlich mit Ratschlägen an Christen wahr, welche Parteien nicht zu wählen seien, ganz konkret die AfD. Zugleich aber gibt es keine Partei, die sich radikaler für den Lebensschutz einsetzt und die den Kampf für Familien und für die Ehe ähnlich massiv postuliert, nachdem die Unionsparteien diese Positionen geräumt haben. Ist das ein Indiz dafür, dass auch die Katholische Kirche klassische Forderungen sukzessive aufgibt, etwa mit Blick auf die Haltung zur Homosexualität?

Es gibt keine Partei, die alle moraltheologischen Positionen der Kirche ins Strafgesetzbuch übernehmen würde – und das ist ja auch gar nicht wünschenswert. Ich glaube, manche haben, auch bei uns, nicht verstanden, was Sache des Staates ist in einer offenen Gesellschaft und was Sache der Kirche. Es kann nicht Forderung der Kirche sein, alle unsere Überzeugungen spiegelbildlich in Gesetze zu übernehmen. Das ist eine Entwicklung, die bereits in der Freiheitsgeschichte der Moderne angelegt ist, grundgelegt bereits in der mittelalterlichen Tradition des Dualismus von Staat und Gesellschaft. Dennoch wurde noch jahrhundertelang der ganze Bereich der Familie der Religion überlassen. In einer pluralen Gesellschaft aber geht das nicht. Das musste die Katholische Kirche in einem schmerzhaften Lernprozess erkennen. Heute würden wir einen Kampf wie jenen gegen die staatliche Ehescheidung gar nicht mehr führen; auch wenn es immer welche geben wird, die solche Lernprozesse gern zurückschrauben wollen. Es gibt einige Freiheitsbereiche, da muss sich der einzelne Gläubige vor Gott verantworten, nicht aber vor dem Staat, Stichwort: Homosexualität. Da sind die Diskussionen in manchen Bereichen der Weltkirche leider noch nicht auf dem Stand, den wir in der Gesellschaft Gott sei Dank inzwischen erreicht haben. Aber deswegen sagen wir trotzdem nicht, dass eine homosexuelle Beziehung mit der Ehe zwischen Mann und Frau gleichzustellen ist. Man könnte sogar sagen, der Staat überschreitet seine Kompetenz, wenn er die Ehe neu definiert. Und natürlich ist die Abtreibung für die Kirche eine Tötung menschlichen Lebens – und ist deshalb nicht erlaubt. Gleichzeitig fragen wir uns sehr intensiv, wie man verhindern kann, dass es überhaupt zu Abtreibungen kommt. Wir haben als Kirche gelernt, das ist nicht nur eine Frage des Strafrechts. Es geht ja vor allem um die Frauen und die Kinder; man muss die Frauen gewinnen und helfen, damit Menschen Ja sagen zum Kind. Das bleibt durchaus eine Aufgabe.

Aber so klar, wie Sie es jetzt suggerieren, sind doch Staat und Kirche, zumal in Deutschland, nicht geschieden.

Die Liste solcher parallelen Wechselwirkungen mit je eigenen Gesetzlichkeiten ließe sich fortsetzen. Die Positionen der Kirche, das habe ich deshalb ausgeführt, bleiben hier ganz klar. Auf der Ebene des Staates müssen darüber die Parteien miteinander diskutieren – und Christen müssen für sich eine Abwägung vornehmen. Zugleich müssen wir aber immer wieder genau hinschauen: Was ist gesetzlich zu regeln, wo muss der Staat noch unterstützen, wo die Freiheitsentscheidungen der Einzelnen respektieren, die verschiedenen Religionen, Glaubensüberzeugungen oder auch keinem Glauben oder keiner Weltanschauung folgen? Da kann es dann auch immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Streit kommen. Und es ist kein Geheimnis, dass es katholische Positionen, sehr klare katholische Positionen gibt, die in den letzten Jahren politisch unter Druck geraten sind. Ich habe die Thesen zu Ehe und Lebensschutz genannt. Da versuchen wir, unsere Argumente weiterhin in die öffentlichen Debatten einzubringen. Aber wenn Parteien versuchen, bestimmte Versatzstücke dieser Unzufriedenheit zu mischen mit anderen Themen wie dem Nationalismus, dann gilt es, wachsam zu sein. Da sehe ich schon einen Versuch, bestimmte Punkte einfach für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Aber letztlich muss jeder sein eigenes Gewissen befragen. Deswegen sage ich auch nichts zu Parteien, sondern ich nenne nur Kriterien, wo für einen Christ Grenzen überschritten werden. Wenn etwa eine bestimmte Volksgruppe oder eine bestimmte Nation überhöht wird oder wenn ganze religiöse Gruppen unter Generalverdacht gestellt werden, da muss ich sagen: Vom christlichen Standpunkt aus ist das inakzeptabel. Nochmals, ich kann und möchte niemandem, auch keinem Christen, seinen politischen Standpunkt verbieten und sagen, was er oder sie wählen soll. Aber ich muss als Bischof Punkte setzen und verkünden, von denen ich der Überzeugung bin, dass ein Christ sie betrachten und abwägen sollte, bevor er sein Kreuzchen in der Wahlkabine macht.

Also hat Hans Joas Unrecht, wenn er sagt, Kirchen seien keine Moralagenturen, Kirchen sollten sich auf die Verbreitung des Glaubens und die Weckung von Begeisterung konzentrieren, aber es gehe sie eigentlich nichts an, wie ihre Gläubigen denken und leben?

Beides ist wichtig! Aus der christlichen Lebensweise entsteht natürlich auch ein moralischer Impetus. Ich kann nicht sagen, von Moral hat Jesus überhaupt nicht gesprochen. Aber das Erste ist nicht eine moralische Wirkung. Das Erste ist, dass wir eine kollektive Befreiungserfahrung machen. In der Osternacht sage ich oft, wir empfinden uns als Menschen, die aus dem Schiffbruch gerettet wurden. Das Schiff sehen wir noch, wie es untergeht. Wir aber sind am Strand, wir haben es geschafft. Wir leben! Daraus ergibt sich eben auch eine neue Lebensweise. Joas hat aber sicherlich Recht, wenn er sagt, dass wir das Christentum nicht auf Moral reduzieren dürfen. Denn dann wäre das doch eine fürchterlich langweilige Geschichte. Aber das hat auch die Aufklärungsphilosophie mitbewirkt, die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft betrachten wollte, den ganzen Bereich der religiösen Erfahrung, der Liturgien auf den Kernpunkt Ethik reduzieren wollte. So ist eine gewisse Schieflage entstanden. Salopp formuliert: Religion ist Ethik und das ganze andere Zeug mit Weihrauch und Brimborium, das braucht es nicht. Und da sage ich ganz klar: Nein, das führt zu einer Verarmung der Religion und infolgedessen auch zu einer Abkehr von der Religion. Nochmals: Ein wesentlicher Grund der Abkehr von der Religion kann diese Reduzierung auf das Moralische sein. Schließlich braucht niemand unbedingt eine Religion, um zu hören, dass er seinen Nächsten lieben soll wie sich selbst. Nein, Religion sollte immer, mit Niklas Luhmann gesprochen, auch etwa Rauschhaftes haben. Auch etwas Festliches, eine Erfahrung der Befreiung, der Hoffnung, der Liebe. Das ist in der Katholischen Kirche sicher besonders stark. Erst gestern, bei einem Gottesdienst zur Altarweihe, war das wieder zu erleben: Die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt, es wurde viel gesungen, Weihrauch und Weihwasser und alles immer in Bewegung. Da wurde Weihrauch mit großen Flammen entzündet auf dem Altar, und die Kinder, die guckten staunend mit weit aufgerissenen Augen. Und anschließend ging es weiter: Da wurde der Schweinsbraten gebracht und die Blasmusik spielte auf. Das war ein einziges Fest. Und da konnte man etwas von der wirklichen katholischen Fülle erleben. Eine neue Lebensweise und das Fest, das gehört für mich untrennbar zusammen, und das ist auch die Zukunft der Kirche.

Vielen Dank für das Gespräch.

Seite ausdrucken Download als PDF

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 2-2017 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2017