Über Revolutionen Anmerkungen zu einem Faszinosum

Von Gerd Koenen

Das Jahr 1968 markiert einen historischen Punkt, an dem ein hypertroph geblähter Begriff der »Revolution« noch einmal eine Art letztes, beschwörendes Revival erlebt hat. Via Havanna und Peking – mehr als via Moskau, wo bereits der 50. Jahrestag des Roten Oktober im toten, pompösen, militärischen Ritual alter, müde klatschender Männer erstarrt war – diffundierte der Begriff der Revolution damals noch einmal in die Literatur und die Rhetoriken einer globalen, sowohl westlichen wie südlichen und auch östlichen Neuen Linken.

Man konnte sich damals einen historischen Augenblick lang als eine internationale, revolutionär gleichgestimmte Jugendbewegung imaginieren, die Teil und Verbündete eines Aufstands der »Verdammten dieser Erde« gegen die Herren der Welt war – nur um im selben Moment schon zu erleben, wie diese Totalität unvermittelt in Ubiquität umschlug. Fast über Nacht wanderte der inflationierte Begriff einer Revolution in die von diesen jugendlichen Rebellionen und Lebensreformen frisch befeuerten Kultur- und Bewusstseinsindustrien der westlichen Welt hinüber, und von dort gleich weiter in die kapitalistischen Werbe- und Warenwelten. Es dauerte nicht mehr lange, bis jede technische Innovation, jeder Musik-, Kleidungs- oder Kunststil, jede Veränderung des Alltagslebens eine Revolution war, von denen eine die nächste jagte – und das bis heute und immer hektischer.

Der Begriff der »Revolution« war schon 1989 so omnipräsent und unbestimmt geworden, dass man sich beinahe gescheut hätte, den einschneidendsten politischen Umbruch unseres Zeitalters – den Kollaps des sowjetischen Lagers – trotz aller ihn begleitenden und vorantreibenden Massenproteste noch einmal mit diesem emphatischen Ausdruck zu belegen. So haben gerade diese zivilen und friedlichen, singenden oder samtenen Revolutionen, um die es sich nach allen Kriterien, die man anlegen kann, ja durchaus gehandelt hat, das Pathos nur sehr partiell noch in Anspruch nehmen können, das ungleich gewaltsameren Ereignissen vorbehalten blieb – wie eben der bolschewistischen Oktoberrevolution. [...]

Seite ausdrucken Beitrag bestellen

Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018