»Den Zeitstrom der Geschichte gliedern« Gespräch mit Peter Graf Kielmansegg über Zäsuren, die digitale Revolution und die Zukunft Europas

Interview mit Peter Graf Kielmansegg

Wenn das Schlagwort »Zäsur« fällt: Wovon sprechen wir dann?

Der Begriff »Zäsur« entspringt einem Orientierungsbedürfnis. Wir wollen und müssen den Strom der Zeit gliedern, um mit ihm erinnernd umgehen zu können. Wir suchen nach Punkten, an denen ein Ende und ein Anfang sehr markant aufeinandertreffen. Solche Punkte nennen wir Zäsuren. Wir meinen damit einen Einschnitt in das Kontinuum der Zeit, der tief reicht. Man muss sich allerdings klarmachen, dass Zäsuren nichts dem Zeitstrom objektiv Eigenes sind. Zäsuren werden in den Zeitstrom hineininterpretiert. Freilich nicht willkürlich. Historische Zäsuren, die Völker, Staaten, Kulturen betreffen, werden zu solchen ja nur dadurch, dass man sich über sie verständigt. Und dafür braucht es Gründe. Insofern ist es ein großer Unterschied, ob wir von Zäsuren in einem individuellen Leben – in der Deutung dieses Lebens ist derjenige, der es lebt, zunächst einmal mit sich allein – oder von Zäsuren in der Geschichte von Kollektiven, auch in Entwicklungen außerhalb des Humanbereiches, etwa erdgeschichtlichen Einschnitten, reden. Da sind die Notwendigkeiten argumentativer Objektivierung von gliedernden Deutungen des Zeitstroms viel stärker.

Die Politikgeschichte betont, so scheint es, stärker die Brüche, die Sozial- und Kulturgeschichte die langen Kontinuitätslinien. Wie lässt sich eine Phase beschleunigten Wandels von einer Zäsur unterscheiden?

Politikgeschichte ist zu einem guten Teil Ereignisgeschichte. Ereignisse können sehr abrupt ein Ende herbeiführen oder einen Anfang setzen. Das gilt etwa für Schlachten. In einer Schlacht entschied sich die Eroberung Englands durch die Normannen, eine weitere Schlacht beendete das napoleonische Zeitalter. Wieder eine andere Schlacht setzte dem preußisch-österreichischen Dualismus in Mitteleuropa nach 120 Jahren ein Ende. Was für Schlachten zutrifft, gilt auch für den Ausbruch von Revolutionen – die Erstürmung der Bastille ist dafür ein Beispiel. Ein epochales Ereignis ganz anderer Art, aber eben auch ein Ereignis, war die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Dabei hatte diese für die altamerikanischen Kulturen freilich eine viel tiefgreifendere Bedeutung als für Europa, so sehr diese Entdeckung auch die europäische Geschichte in neue Bahnen lenkte. Auch gibt es Ereignisse, die eine Zäsur lediglich symbolisieren. Wir haben im letzten Jahr Luthers Thesenanschlag von 1517 mit großen Erinnerungsfesten gefeiert. Die Reformation war fraglos eine Zäsur der europäischen Geschichte; aber Luthers Ablassthesen waren bloß ein allererster Schritt in diese Zäsur hinein – und konnten erst im Nachhinein so verstanden werden. Gesellschafts- und Kulturgeschichte dagegen hat es vornehmlich nicht mit Ereignissen, sondern mit der Entwicklung von Strukturen und Mentalitäten zu tun. Die ändern sich selten abrupt. Gerade auch die Untersuchung ihres Wandels macht es notwendig, lange Entwicklungslinien ins Auge zu fassen. Der Rückgang etwa der Kinderzahl in den entwickelten Industriegesellschaften, eine der demografischen Schlüsselentwicklungen der neueren Geschichte, war nicht, wie man oft meint, ein plötzliches, von der Antibabypille ausgelöstes Ereignis, sondern lässt sich bis in das späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen, hat dann freilich durch die Erfindung eines einfachen empfängnisverhütenden Medikamentes einen starken Schub erhalten. Auch die Emanzipation der Frau, die im Rückblick, wenn man die historische Bilanz des 20. Jahrhunderts zieht, vielleicht einmal ganz vorn stehen wird, ist ein Prozess der longue durée. Das heißt auch: Versteht man den Begriff richtig, steht er eben nicht für Statik, Unbeweglichkeit. Freilich gibt es andererseits Beispiele dafür, dass kultureller Wandel sehr schnell abläuft. In den 1960er und 1970er Jahren verloren, historisch gesehen, von einem Tag auf den anderen fast alle die Sexualbeziehungen normierenden Konventionen, insbesondere die Bindung von Sexualität an die Ehe, ihre Geltungskraft. Das war tatsächlich eine Art von Revolution, die man mit dem Ereignis der Erfindung der Pille in Verbindung bringen kann. Insbesondere vor dem Hintergrund einer Langzeit-Kulturgeschichte der europäischen Sexualität sind die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ganz sicher eine höchst dramatische Zäsur.

Rüdiger Safranski betonte zuletzt im Spiegel den Wunsch nach einer Balance von Bewahrung und Erneuerung als anthropologischer Konstante. Wie reagieren die Gesellschaften auf Zäsuren? Dominieren Krisendeutungen oder doch eher optimistische Erwartungen?

Safranski hat mit seiner Einschätzung des Menschen zweifellos recht. Bewahrung und Veränderung sind für den Menschen gleichermaßen wichtig. Der Mensch braucht für ein gelingendes Leben eine ihm vertraute Lebenswelt. Er muss aber auch offen sein für Veränderungen, um der Welt gewachsen zu bleiben. Wie sich das eine zum anderen verhält, ist auch eine Frage des Lebensalters. Älteren Menschen fällt schwerer als jungen, sich noch auf einen raschen Wandel der Lebenswelt einzustellen, ihn gar zu bejahen. Das bedeutet übrigens, dass unsere Zivilisation eine wachsende Spannung hervorbringt: Gesellschaften altern, zugleich beschleunigt sich der Wandel der Lebenswelt dramatisch. Der Widerstand gegen diesen Wandel wächst also nicht nur wegen der Beschleunigung, sondern auch aus demografischen Gründen. Aber auch unabhängig von dieser besonderen Spannung gilt: Es ist fraglich, wie lange wir der extremen Beschleunigung, mit der unsere Zivilisation sich fortentwickelt, sich verändert, noch gewachsen sein werden. Die Digitalisierung ist das Beispiel des Tages für diese Beschleunigung; so wie sie ein Beispiel dafür ist, dass auch ein Wandel nicht ereignishafter Natur durchaus als Zäsur wahrgenommen werden kann. Ich jedenfalls habe den Aufstieg der digitalen Kommunikation zu einer alles beherrschenden Lebensmacht in einer ziemlich kurzen historischen Zeitspanne als die tiefste lebensweltliche Zäsur in den achtzig Jahren meines Lebens erfahren. Dass Gesellschaften dabei auf Zäsuren in der Regel ambivalent – nicht einheitlich und nicht eindeutig – reagieren, lässt sich gerade auch an diesem Beispiel zeigen. Man gibt sich einerseits der digitalen Kommunikation wie einer Sucht hin; und ist andererseits zugleich schon jetzt, nach nur zwei Jahrzehnten, von tiefer Sorge, tiefer Skepsis gegenüber diesem jüngsten Geschenk eines Fortschritts, den man nicht aufhalten kann, erfüllt. Man muss auch die globale Migration, genauer die Armuts- und Katastrophenmigration, die in die Wohlstandsregionen der Welt drängt, als einen Aspekt der Dynamik beschleunigten Wandels, den unsere inzwischen weltweit dominante Zivilisation hervorbringt, sehen. Viele Menschen in den am stärksten von Einwanderung betroffenen Ländern ertragen und vertragen das Tempo und das Ausmaß lebensweltlicher Veränderung, die aus dieser Migration folgen, nicht mehr.

Sie haben schon die orientierende Funktion von Zäsuren angesprochen. Welche weiteren gesellschaftlichen Funktionen erfüllt das kollektive Erinnern in historischen Zäsuren?

 Es geht wohl eher um das kollektive Erinnern nach historischen Zäsuren. Das Wort »Funktion« hat für mich immer einen deutlich oder undeutlich normierenden Beiklang. Ich würde lieber fragen: Welche Rolle spielen kollektive Erinnerungen nach Zäsuren? Was bewirken sie? Was können sie bewirken? Auf diese Fragen gibt es sicher keine pauschale Antwort. Revolutionen hinterlassen typischerweise mit einer gespaltenen Gesellschaft auch ein gespaltenes Gedächtnis. Das kann auch bei verlorenen Kriegen der Fall sein. Selbst nach 1945 war die Erinnerung an die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft, die doch in eine Katastrophe geführt hatten, eine gespaltene, uneinheitliche, uneindeutige. Wenn es gut geht, kann kollektive Erinnerung orientierend, sinnstiftend wirken. Da ist dann wichtig, dass es positive Schlagworte, Bilder, Episoden als Kristallisationskerne kollektiver Erinnerung gibt. Für die kollektive Erinnerung an das Geschehen der Wiedervereinigung, das insgesamt ja ebenfalls durchaus ambivalent wahrgenommen worden ist, hat es entscheidende Bedeutung, dass der Mauerfall – ein unerhört symbolträchtiges Ereignis – den eigentlichen bildlichen Erinnerungskern ausmacht.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2018 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2018