Zwischen Marx und Freud und Masters und Johnson Kritische Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik um 1979

Von Dagmar Herzog

Was hat die praktische, handanlegende Sexualtherapie – die »squeeze-Technik« gegen frühzeitigen Samenerguss und die »sensate focus«-Übungen zur Überwindung von Orgasmusschwierigkeiten – mit einer von Karl Marx inspirierten Gesellschaftskritik zu tun? Eine Handvoll junger, westdeutscher, mit der Neuen Linken verbündeter Sexualforscher wirkten seit den 1970er Jahren intensiv an der Liberalisierung des Sexualstrafrechts und der Sitten mit. Zugleich rangen sie mit ihren eigenen tiefen Ambivalenzen angesichts einer vom Konsumkapitalismus getriebenen sexuellen Revolution, die sich um sie herum entfaltete. Gefördert und betreut wurden sie von einer ungewöhnlichen Kombination von Lehrern – unter ihnen ehemalige Nationalsozialisten und jüdische Réémigrés. Ungemein kreativ verbanden sie drei Arbeitsbereiche: großangelegte empirische Sozialforschung, fachkundige Beratung und stetige Medienpräsenz als public intellectuals. Aber das wichtigste – und für uns heute noch relevanteste – Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit war ein verändertes Verständnis des »Sexuellen« selbst. Nicht zuletzt, weil sie ahnten, dass die sexuelle Revolution, in all ihrer Komplexität, für viele Menschen nicht nur die Werte veränderte, sondern auch die gelebte Erfahrung von Sex. Dies wiederum bedeutete auch eine Auseinandersetzung mit innovativen, radikalen Lesarten Sigmund Freuds. […]

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016