Editorial

Von Michael Lühmann  /  Matthias Micus

»Janusköpfig« sei es, ein »an die Wand genageltes Datum« – mit diesen und anderen Termini kennzeichnen unsere Autoren jenes Jahr 1979, dem sich die vorliegende Ausgabe der INDES widmet. 1979 wird in den Beiträgen charakterisiert als eine Zäsur, in der die Bruchzonen der Moderne in globaler Perspektive offen durchscheinen und sich die Umbrüche in die Gegenwart so deutlich zeigen wie kaum einmal sonst in der Nachkriegsgeschichte. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, ja, im Gegenteil mutet es sogar verblüffend an. Sorgt doch die Angabe von Zäsuren und mithin die Vorstellung, historische Prozesse würden sich durch exakte Datierungen begrenzen lassen, durch die Angabe präziser Zeitpunkte, zu denen das eine plötzlich neu und sogleich voll entfaltet entsteht und etwas anderes komplett und folgenlos verschwindet, unter seriösen Historikern zumeist nur für Kopfschütteln. Die Geschichtswissenschaft denkt in langen Linien, sie weiß um die Zählebigkeit etwa von Einstellungen und Mentalitäten sowie um die weit ausgreifenden Vorgeschichten und Folgewirkungen konkreter gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer und politischer Phänomene, deren tatsächliche Anfänge und Abschlüsse zumeist allenfalls näherungsweise bestimmbar im Nebulösen verbleiben.

Mehr noch: Auch breitere Epocheneinteilungen, die auf allzu enggefasste Datumsangaben verzichten, differieren je nach der Perspektive des Betrachters. Konjunkturzyklen richten sich nicht nach der Bestandsdauer einer politischen Ära, die wiederum keineswegs synchron mit kulturellen Umbrüchen verläuft. Vollends diffus wird das Bild, wenn mit Reinhart Koselleck jede Gegenwart als eine Mauer aus verschiedenen, übereinander lagernden Zeitschichten aufgebaut vorgestellt wird. Daraus folgt dann, dass – salopp gesagt – verschiedene Bevölkerungsgruppen in ein und demselben Moment in unterschiedlichen Zeiten leben können, die einen in ihren Existenzweisen moderner, die anderen traditioneller.

Insofern keinesfalls überraschend stellte die Frage, ob und wenn ja in welcher Art und Weise das Jahr 1979 als Zäsur betrachtet werden könne, für eine ganze Reihe unserer Autoren eine Herausforderung dar. Auch 1979 ist ein Jahr, welches einerseits durchaus konturiert ist durch weltumspannende Umbrüche und aufsehenerregende Ereignisse; das dabei dennoch in einem teils paradoxen Wechselspiel zwischen kontinuierlichem Wandel und radikalem Bruch changiert. Zäsuren, das zeigt sich auch in den Texten dieser Ausgabe von INDES, sind für die Strukturierung des Geschichtsprozesses hilfreich, vielleicht gar unentbehrlich, insofern sich mit ihnen Schneisen in die unübersehbare Fülle historischen Faktenmaterials schlagen, Einzelereignisse verbinden und bündeln, ordnende Zusammenhänge herstellen und Komplexitäten reduzieren lassen – Zäsuren mithin sind nützlich, sie sind andererseits aber nichtsdestotrotz auch problematisch. Für beides lässt sich Martin Sabrow als Gewährsmann aufführen, der historische Zäsuren als ebenso herausragende wie verschwommene Größe der Verständigung über die Vergangenheit bezeichnet, deren historiografische Beliebtheit in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrer begrifflichen Klarheit stehe.

Gleich drei Autoren – Franz Walter, Frank Bösch und Anselm Doering- Manteuffel – widmen sich in ihren Texten der Vermessung des Jahres in nationaler, globaler und historischer Perspektive. In kaum einem anderen Jahr werde die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen so offensichtlich wie in diesem, so Franz Walter. Währenddessen geht Frank Bösch der Frage nach, ob und inwiefern die Umbrüche von 1979 die prägenden Themen der Gegenwart etabliert haben. Das Konzept der Zeitbögen von Anselm Doering-Manteuffel, der um das Jahr 1979 herum den Beginn eines neuen, heute noch andauernden, wenngleich aktuell womöglich vor seinem Ende stehenden Zeitabschnitts diagnostiziert, weist in eine ähnliche Richtung.

Dabei, und dies macht 1979 besonders reizvoll, sind die in diesem Jahr stattfindenden Umbrüche in die Gegenwart ein nachgerade weltgeschichtliches Phänomen. Die iranische Revolution, deren Hintergründen sich Katja Föllmer intensiv widmet, und die These der Modernität des Islamismus, die Severin Caspari diskutiert, verdienen Aufmerksamkeit nicht zuletzt ob ihrer Relevanz für ein verändertes, in der heutigen öffentlichen Wahrnehmung dominantes Erscheinungsbild »des« Islam. Sie lassen sich ebenso von 1979 aus deklinieren wie die Umbrüche in der östlichen und westlichen Hemisphäre, in der DDR, der Bundesrepublik und in Westeuropa, beispielsweise der europaweite Aufstieg der Grünen, dessen Anfänge Claus Leggewie im beschaulichen Stadtstaat Bremen verortet. Jürgen-Peter Schmied anhand Sebastian Haffners »Preußen ohne Legende« und Habbo Knoch anhand der 1979 ausgestrahlten Fernsehserie »Holocaust« widmen sich dem Wandel bundesrepublikanischer Geschichtsbilder, derweil Franz Walter Karl Carstens als einen aus der Zeit gefallenen Mann portraitiert – der gerade deshalb den Anforderungen seiner Zeit gerecht zu werden vermocht habe.

Auch mit der vorliegenden INDES wird das Jahr 1979 nicht abschließend beurteilt werden können. Vielmehr sollen die vorliegenden Deutungen und Analysen die diesbezügliche Debatte vor allem weiterführen, durchaus fokussiert auf Fragen, denen sich ohne überragende prophetische Gabe vorhersehbar auch künftige Forschungen noch widmen werden. Jener Fragestellung etwa, wo die skizzierten Umbrüche des Jahres 1979 in die Gegenwart weiterwirken – und wo sie, zumindest in Teilen, ausgehend zum Beispiel von der Krise des Finanzmarktes 2008, neuer weltweiter Unordnung gewichen und in der post-internationalen Wiederkehr nationalstaatlicher Denk- und Präferenzmuster zu einem Abschluss gekommen sind.

Nicht minder abgeschlossen, ja abschließbar ist ferner die Debatte über die universitären Perspektiven des akademischen Mittelbaus und die Interventionsmöglichkeiten der Entscheidungsträger in Politik und Universitätspräsidien. Und mit Eckhard Jesse setzen wir unseren Diskussionsstrang zu Zustand und Perspektiven der geisteswissenschaftlichen Fächer fort, in diesem Fall mit Blick auf die Politikwissenschaft.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016