»Ein an die Wand genageltes Symboldatum« Ein Gespräch über Zäsuren, Zeitbögen, die Krise des Fortschritts und den Neoliberalismus

Gespräch mit Anselm Doering-Manteuffel

Sind der Neokonservatismus und ein reflexiv gewordener Liberalismus dann die zentralen Signa jener Phase nach 1979? Und wie passt der Siegeszug des Wirtschaftsliberalismus zu der Defensive, in welche der gesellschaftskulturelle Freisinn zeitgleich gerät?

Wenn man bezogen auf 1979 sagt, dass seinerzeit gesellschaftliche und kulturelle Liberalisierungen erkennbar reflexiv geworden sind oder zu werden beginnen, dann läuft dergleichen nicht automatisch und schon gar notwendig auf eine Renaissance des Konservatismus hinaus. Liberal und konservativ sind ja nicht die einzig existierenden Gegenbegriffe. Die Art der Liberalisierung in den 1960er Jahren, nach dem Motto »Es geht alles nach vorne«: Das war tatsächlich Fortschrittsdenken in Reinform. Emanzipation und Selbstverwirklichung, die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten: Das alles ist außerordentlich wichtig und wird in dieser Bedeutung auch gesellschaftlich akzeptiert, und zwar bis in die Rechtsprechung, die Umgangsformen und nicht zuletzt die Paarbeziehungen hinein. Wenn das alles 1979 reflexiv wird, dann folgt daraus nicht zwangsläufig ein konservativer Rückschwung. Es heißt nur, dass stattdessen etwas anderes entsteht. Innerhalb der neuen sozialen Bewegungen bspw. wird zwar einerseits immer noch von Emanzipation und Selbstverwirklichung gesprochen; andererseits aber tritt neben die neugewonnene Permissivität ein überkommen geglaubtes Verbotsdenken. Diese oder jene Dinge, tönt es nun, dürfen nicht mehr gemacht, bestimmte Schwellen nicht überschritten werden. Die Stichworte lauten: Ökologie, Abgase, Waldsterben, Umweltverschmutzung ganz allgemein. In einem solchen Moment entsteht ein neues Modell der Restriktivität, das nicht zwangsläufig konservativ ist, aber einem anderen Verständnis der Verbesserung der Welt anhängt, als es für die industrielle und chemisch-technische Moderne des zweiten Zeitbogens typisch ist. Das bedeutet – nochmals – keineswegs, dass eine reflexiv gewordene Liberalisierung in einen neuen Konservatismus mündet. Die Leute in den neuen sozialen Bewegungen sind nicht konservativ. Sie sind grün, sie sind stark engagiert und pflegen einen Lebensstil, der die unbekümmerte Grenzenlosigkeit infrage stellt. Insofern ist das, was dann in der Liberalisierung der 1960er/70er Jahre reflexiv wird, nicht konservativ, sondern es kann durchaus weiter in die Zukunft weisen und auf Zukunftsgestaltung abzielen. Wie man die derartigen Denkmuster und Verhaltensweisen freilich klassifizieren soll, das wiederum ist zwischen unseren Disziplinen, der Politik- und der Geschichtswissenschaft, noch keineswegs ausgemacht.

Wie verhält es sich denn aber nun mit dem Neoliberalismus?

Zunächst wird man die Tatsache zur Kenntnis nehmen müssen, dass auf der amerikanischen Seite von Neo-Conservatism und auf der europäischen von Neoliberalismus gesprochen wird. Das hängt realhistorisch damit zusammen, dass in den Vereinigten Staaten die Begriffe Liberalismus und Liberale als Bezeichnungen für eine politische Richtung und deren Anhänger nicht üblich sind. Die linksliberale Partei nennt sich Demokratische Partei. Deswegen wird in den USA der Wandel von der Industriegesellschaft zum Finanzmarktkapitalismus schlicht als eine neue Form von Konservatismus bezeichnet. In England existieren die Begriffe Neoliberalismus und Neokonservatismus meinem Wissen nach hingegen relativ gleichwertig nebeneinander.

Viel entscheidender aber scheint mir, dass wir bis heute nicht wirklich wissen, was mit Neoliberalismus eigentlich gemeint ist. Sollte das so sein, dann ist der Terminus Neoliberalismus nur ein Etikett, das auf gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Phänomene geklebt wird, ohne dass man sie erklären könnte. Und wenn dies wiederum zutreffen sollte, dann müsste man die Frage stellen, ob denn der Neoliberalismus überhaupt eine neue Form von Liberalismus in der Tradition des europäischen Liberalismus seit der Aufklärungsepoche ist. Da kann man auch skeptisch sein. Man könnte sagen, der Finanzmarktkapitalismus mit seinem Durchbruch ab 1995–2000 stellt eine Rückkehr zum Manchesterliberalismus dar. Da bin ich allerdings skeptisch. Oder man sagt, dieser Durchbruch einer neuen Form des Neoliberalismus ist etwas Neues und bedarf der begrifflichen Bestimmung. Dann wäre Neoliberalismus bis jetzt tatsächlich nur ein Schlagwort derjenigen, die ihn kritisch verwenden – eine Art zeitgenössischer Kampfbegriff, um etwas zu adressieren, das man kritisiert. Die Frage: »Ist der Neoliberalismus eine neue Form des westlichen Liberalismus oder stellt er ein neues Phänomen dar?«, diese Frage ist meiner Ansicht nach bis heute ungelöst. Und sollte der Neoliberalismus etwas Neues sein, so wäre zu klären, ob es sich bei ihm um eine Ideologie handelt, die in die Leerstelle hineintritt, die das Ende des Ost-West-Konflikts mit dem Wegfall der antithetischen Ideologien des Westens und des Ostens gerissen hat. Wenn der Neoliberalismus in diese Leerstelle des Ideologiesystems hineinstoßen sollte, würde sich des Weiteren die Frage stellen: Gibt es eine Gegenideologie? Und wo wäre sie aufzufinden, im Islamismus etwa? Ein Ethnologe würde diese These vermutlich bestreiten.

Sind diese Fragen auflösbar? Und wer könnte sie auflösen?

Bis heute sind das alles Fragen, welche die Sozialwissenschaften und die Zeitgeschichte nicht beantworten können. Die Fragen nach dem Ideologiecharakter und dem Vorhandensein einer Gegenideologie legen eine Zusammenarbeit nahe. Beide Seiten, die Sozialwissenschaften einerseits, die Zeitgeschichte andererseits, können komplementäre Beiträge leisten bei der Vermessung der Lebens- und Arbeitswelten von Arbeitnehmern in einer neuen industriellen Gesellschaft, die primär von der Finanzwelt und nicht mehr von den produzierenden Industrien geprägt wird. Da sind die Soziologen mit der Erhebung der Sozialdaten unsere Partner; allerdings können die Soziologen nicht sehr weit zurückdenken, weil ihre Sozialdaten meistens einen Zeitraum von nicht mehr als 15 Jahren umfassen. Historiker brauchen längere Zeiträume, um erklären zu können. Da wird es für uns oder zwischen der Soziologie und der Geschichtswissenschaft schwierig. Zwischen Politologen und Zeithistorikern gibt es dort Reibungspunkte, wo die Politologen vorgegebene Trends fortzuschreiben und Zukunftsprognosen abzugeben versuchen. Diese Gefahr besteht besonders dann und insofern, wenn Politologen in Forschungsprogramme gegossene Erkenntnisinteressen der Politik bedienen. Das ist für Zeithistoriker kaum einzulösen. Insofern muss man für jeden Einzelfall sehen, ob sich die Disziplinen sinnvoll ergänzen, sodass angeraten ist, gemeinsame Forschungsvorhaben anzustoßen, bei denen die Fächer zusammenkommen. Die Sozialwissenschaften ebenso wie die Zeitgeschichte sind gehalten, im Rahmen ihrer jeweiligen Methodik, Wege und Möglichkeiten zu finden, um die Abkehr von der keynesianischen Wirtschafts- und Sozialkultur des sogenannten sozialen Konsenses und ihre Ablösung durch einen radikalen Subjektivismus und eine entfesselte Wettbewerbslogik in der Zeit von 1974 bis 1978 erstens zu beschreiben und zweitens anhand der fachspezifischen Quellen zu analysieren. Soziologen haben, plakativ gesprochen, Zahlenreihen; Politologen bedienen sich der Meinungsforschung; und die Historiker setzen sich auseinander mit dem, was zeitgenössisch zu fassen ist: mit Presseartikeln, Interviews und anderen Quellen. Die verschiedenen Zugänge müsste man, wiederum im Einzelfall, deklinieren und voneinander abgrenzen.

Können die Fächer voneinander auch etwas lernen?

Ich zumindest empfinde den Umgang zwischen Politologie und Geschichtswissenschaft als reizvoll. Die Politologie hat die Stärke und oftmals auch die Aufgabe, tatsächlich erkennbare Trends in die Zukunft weiterzudenken. Und dazu hat sie auch gewisse Methodiken entwickelt. Die haben wir nicht; unser Wissen endet mit der klaren Aussage, dass das, was heute ist, aus dem oder jenem Grund entstanden ist. Das können wir erklären. Aber wie es weitergeht, können wir nicht sagen – oder sollten zumindest die Finger davon lassen.

Welche offenen Fragen lassen sich, als Essenz dieses Gesprächs, über 1979 hinaus noch stellen?

Worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, das ist, wie sich eigentlich der Prozess der radikalen Subjektivierung und Individualisierung auf die Demokratie, die real existierende parlamentarische Demokratie, auswirkt. Das ist ein höchst wichtiges Thema. Die amerikanische Politologin Wendy Brown behauptet, der Neoliberalismus zerstöre die Demokratie. Bei Colin Crouch liest sich das ähnlich. Welche Folgen hat das veränderte Sozialverhalten, das sich vor allem bei den Jüngeren in einer Entbindung von den Parteien und einem Rückgang kontinuierlicher politischer Partizipationsbereitschaft niederschlägt? Das ist ja auch kein konservativer Effekt, sondern etwas völlig Neues. Wir wissen aber noch gar nicht, wie wir das Neue benennen sollen. Das ist intellektuell sehr reizvoll; mit Blick auf das gesellschaftliche Zusammenleben empfinde ich zugleich ein gewisses Unbehagen.

Wenn Sie in Ihren Arbeiten von dem liberalen Ordnungsmodell als dem in den Großkonflikten der letzten hundert Jahre im globalen Maßstab jeweils siegreichen sprechen, das sich in jedem der drei Zeitbögen gegenüber wechselnden Gegenmodellen durchgesetzt habe, dem monarchischen im Ersten Weltkrieg, dem faschistischen im Zweiten Weltkrieg, dem sowjetkommunistischen im Kalten Krieg, …

 …zumindest vorherrschend, nicht unbedingt siegreich …

 …und das sich auszeichnet vor allem durch die Marktwirtschaft und die Demokratie; wenn außerdem demokratische Ordnungen bisher stets in Verbindung mit dem Herrschaftsgefüge des Nationalstaats gedacht worden sind: Folgt daraus dann, dass wir vor dem Hintergrund der auch von Ihnen konstatierten Erosion nationalstaatlicher Autonomie und Regelungsmacht aktuell an einem Punkt stehen, an dem das liberale Ordnungsmodell nach seinem vermeintlich endgültigen Triumph über sämtliche seiner Gegner vor seinem eigenen Ende steht?

Das können wir noch nicht wissen. Auszuschließen ist es nicht. Im Moment spricht ja wieder vieles dafür, dass wir in eine ziemlich nationalistische Phase eintreten. Das ist auch keine konservative, sondern das wäre wiederum eine neue Phase einer nationalistisch unterfütterten Intoleranz oder Veränderung des Toleranzpotenzials in der Gesellschaft. Ob die Prinzipien der Liberalität, wie wir sie kennen, aufrechterhalten werden können, das ist offen. Und zwar ist diese Form des Liberalismus, der Liberalität, gebunden an die unangetastete Existenz von Rechtsstaatlichkeit, an die Existenz des staatlichen Rahmens, der für die Gesellschaft den Ordnungsrahmen darstellt. Und innerhalb dieses Rahmens gilt die Verbindlichkeit nicht nur von Recht und Gesetz, sondern einer funktionsfähigen Ordnung, in der sich die Leute nach ihrer Selbstbestimmung zurechtfinden und entfalten, sich emanzipieren können. Ob das so erhalten bleibt, können wir derzeit nicht absehen. Der staatliche Rahmen erscheint auch deshalb fluktuierend, weil wir nicht wissen, welcher der dominierende ist: der nationalstaatliche oder der europarechtliche oder der europapolitische. Darüber kann man meiner Ansicht nach noch nicht viel sagen. Aber die Veränderungen in der parlamentarischen Demokratie durch den Rückgang der Unterstützung für die Parteien oder der Parteimitgliedschaften – konkret: wenn eine Partei wie die SPD bei derzeit knapp über zwanzig Prozent pendelt –: Was eigentlich heißt das alles?

Das Interview führten Michael Lühmann und Matthias Micus.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2016 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016