Veränderung und Stillstand Zur Ambivalenz der 1990er Jahre

Von Franz Walter

Aber den einen Geist, die eine Entwicklung, das eine und verbindliche Signum weisen Jahrzehnte in modernen Gesellschaften nicht aus. In der Regel mischen sich alte und neue Elemente. Dynamiken erzeugen Durchbrüche, aber auch retardierende Reaktionen. Kontroverse Erfahrungsschichten verschiedener Generationen bestehen neben- oder übereinander und stiften so unterschiedliche Zeitgeiste. Infolgedessen findet man viele Ambivalenzen, kaum simple Eindeutigkeiten. Und die 1990er Jahre dürften ein besonders vielschichtiges, auch widersprüchliches Jahrzehnt gewesen sein. Der Wertewandel und die Bildungsreformen kamen wohl in beachtlichen Teilen zum Erliegen, aber in anderen Bereichen marschierten sie munter weiter. Der Anteil weiblicher Abiturienten und Hochschulabsolventen – dessen Steigerung eines der erklärten Ziele zu Beginn der Bildungsexpansion Mitte der 1960er Jahre gewesen war – wuchs im hier behandelten Jahrzehnt erheblich. Die grundlegenden Bildungsinstitutionen durchliefen seit den 1990er Jahren einen folgenreichen Wandel, an dessen Ende neuhumanistische Pädagogiken und Humboldt’sche Ideale von der selbstbestimmten Einheit der Forschung und Lehre in hohem Maße auf ein Minimum gerupft waren.[6] Der Bildung teilte man nun mehr und mehr die Funktion des Motors und Innovators von ökonomischer Effizienz und fortlaufender wettbewerbszentrierter Modernisierung zu. Der Einfluss staatlicher Bürokratien wurde zurückgedrängt, die Macht von (durch niemanden legitimierten) Agenturen, Evaluationskommissionen, Qualifikationssicherern und Benchmarkingexperten stieg schlagartig an. Das Jahrzehnt endet entsprechend, mit der Unterschrift von 29 europäischen Bildungsministern unter der Erklärung von Bologna.

»Privat statt Staat« – das avancierte zu einem zentralen Slogan aller derjenigen, die nach dem Fall der Mauer und dem Verschwinden der staatssozialistischen »Systemalternative« auch das katholisch-christdemokratische/ sozialdemokratische Wohlfahrtsmodell zum Anachronismus und Modernitätshemmnis erklärten und für einen ambitiösen Deregulierungsschwung plädierten. Das Bankenwesen, die Finanzwirtschaft insgesamt sollten liberalisiert werden; überdies lockten die enormen Renditepotenziale einer Vermarktlichung der Sozialsysteme. Die neuliberalen Eliten schwärmten von der Tatkraft Maggie Thatchers, die ihr Land rigide umgekrempelt hatte. So wünschte man sich das weltweit. Auch in Deutschland verbreiteten sich diese Choräle; auch hier fanden sie keineswegs wenige Zuhörer und Akklamateure. Aber der pfälzische Bundeskanzler in Bonn hielt nichts von Frau Thatcher, und er glaubte nicht an die Segnungen brachialer Veränderungen. Da die Sozialdemokraten seinerzeit noch heroischer die überlieferte Sozialstaatlichkeit verteidigten, blieben hierzulande angelsächsische Radikalkuren vorerst aus.

Jahrzehnt der Stagnation oder der Veränderung

Dennoch identifizierten Wirtschaftshistoriker in den 1990er Jahren entscheidende Weichenänderungen in der Wirtschaft Deutschlands. In diesem Jahrzehnt vollzog sich ein Generationswechsel im Management der deutschen Unternehmen.[7] Die Deutschland-AG bekam ein neues Gesicht, das immer weniger Züge des klassischen rheinischen Kapitalismus trug. Die neuen Manager kamen mehr und mehr aus der universitären betriebswirtschaftlichen Ausbildung, waren weniger mit der fachlichen Produktion ihrer Unternehmen vertraut. Durch ihre Auslandsaufenthalte brachten sie neue, aus dem Angelsächsischen entlehnte Methoden der Betriebsführung mit.[8] Frühere Loyalitäten gegenüber regionalen Standorten und langjähriger Belegschaften schliffen sich ab. Statt kooperativer Aushandlungsformen bevorzugten die neuen Manager harte, kompetitive und konfrontative Wettbewerbsmethoden. Trotz des allgegenwärtigen Lamentos in der späten Kohl-Ära über die bedrückende Last eines »Reformstaus« schienen also massiv Kräfte heranzuwachsen, die dem alten bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat den Garaus bereiten und ihn durch eine fundamentale Alternative ersetzen wollten.

Indes, eine solche kohärent entworfene Fundamentalalternative vermochten sie der deutschen Gesellschaft nicht zu oktroyieren. Bei den Meinungsführern in der Republik, im Grunde von links bis rechts, nährte das eine chronisch schlecht gelaunte Stimmung, welche sie wieder und wieder über mangelnde Reformen und ausgebliebene Veränderungen klagen ließ.[9] Deutschland wurde von ihnen zum »kranken Mann« Europas deklariert. Der Bundespräsident Roman Herzog äußerte sich in einer Rede im April 1997 in Berlin hochbesorgt über die »unglaubliche mentale Depression« im Land und forderte einen großen »Ruck« ein, womit er ein bis zu den Wahlen 1998 debattenprägendes Stichwort vorgegeben hatte.[10] Auch im Rückblick blieb die Wahrnehmung eines schier bedrückenden Reformstaus lange und fest erhalten, bei Journalisten wie auch bei Politologen. Jan Ross etwa wertete das Jahrzehnt negativ als »verlorene Jahre«[11]; der Politologe Roland Czada vermisste die Leitidee, die allein Reformen hätte inspirieren und fundamentieren können, wie insbesondere die Ära der Veränderungen im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren gezeigt habe.[12]

Diese Sicht hat den Widerspruch, ja geradezu den Spott von Hans-Peter Schwarz, Biograf Konrad Adenauers und Helmut Kohls, hervorgerufen.[13] Die viel bejubelten Reformen in der Kanzlerschaft Willy Brandts hält der emeritierte Politikwissenschaftler eher für läppisch, ohne große Wirkungsbreite und -tiefe, für pure Oberflächenphänomene. Wirklich richtungsweisend und dabei von tief greifendem Ausmaß ging es Schwarz zufolge nur in zwei Jahrzehnten zu: den 1950er- und eben den 1990er Jahren, in der zweiten Hälfte also der Regierungsära Kohl, die gemeinhin als besonders stagnativ verrufen ist. Nun ist der Politologe Schwarz immer auch ein außerordentlich politisch urteilender Autor, der beherzt im Streit der Meinungen Partei ergreift und dabei gewiss nicht ungern das linksliberale Juste Milieu ärgern möchte. Gleichwohl, die Lesart von Schwarz zu den neunziger Jahren ist keineswegs abwegig. Eher wirkt es in der Rückschau merkwürdig, wieso man dieses Jahrzehnt als veränderungsunwillig betrachtet. Im Osten Deutschlands war die jähe Zerschlagung aller bis dahin über Jahrzehnte tragenden Fundamente von einer historisch seltenen Rigidität und Entschlossenheit.[14] Neue Infrastrukturen, neue Verfassungsgebote, neue intermediäre Instanzen, ein neues Finanzwesen und eine neue Währung mussten eingeführt werden. Mindestens ebenso gravierend für die Bürger des vereinigten Landes, aber von ihnen zunächst kaum bewusst registriert, waren die Entscheidungen im Zuge der europäischen Integration, die Helmut Kohl fraglos zielstrebig und mit unbeirrter Entschiedenheit in Gang gesetzt und weit auf den Weg gebracht hatte, von der neuen europäischen Währung über die neuen institutionellen Kooperationsgeflechte, die in Deutschland zu Souveränitätsverlusten des nationalen Parlaments, insbesondere auch der Landtage führten. Auch die durchaus nicht marginalen Post- und Bahnreformen fielen in diese Jahre. All dies machte Deutschland – und nicht nur Deutschland – anders.

Die Stillstands-Debatte der 1990er Jahre war unzweifelhaft ein Elitendiskurs. Vor allem im Wirtschaftsbereich, bei den größeren Unternehmen, insbesondere aber im Investmentsektor und der New Economy herrschte eine geradezu tolldreiste Goldgräberstimmung.[15] Der Aktienboom heizte die Gier nach rasch abgeschöpften Gewinnen noch mehr an. Denen, die so verdienten, konnte es gar nicht schnell genug gehen, die ihnen längst überlebte Industriegesellschaft zu verschrotten, den Finanzmärkten und -strömen völlig freien Lauf zu verschaffen, die Steuern markant zu senken, den »Sozialkitsch« samt der aufwendigen Wohlfahrtseinrichtungen eines entschieden zu »fetten Staates« in den Orkus der Geschichte zu versenken.

Nur: Andere hatten keineswegs den Eindruck einer stillgelegten und gemächlich vor sich hin dösenden Gesellschaft. Im Gegenteil, ihnen stellte sich die Realität zuweilen wie ein Albtraum des Gejagtwerdens, der hoffnungslosen Flucht, letztlich: der Zerstörung des bisherigen Seins dar. Im Osten des neuen Deutschlands war das evident, da vier Jahre nach dem Kollaps des Honecker-Regimes nur noch gut ein Viertel der früheren DDR-Bürgerinnen und -bürger an dem Platz arbeitete, den sie/er 1989 noch eingenommen hatte. Aber auch im Westen wuchs im Zuge der Vereinigungskrise bei vielen die Furcht davor, nicht mehr mithalten zu können, in das Lager der Gescheiterten, Entbehrlichen und Überflüssigen abgeschoben zu werden.[16] Die alte Industriegesellschaft, die zumindest in den konjunkturell guten Zeiten auch Ungelernten und ihren Familien über Arbeit ein selbst verantwortetes Leben hatte ermöglichen können, schien nun final ihren Abschied zu nehmen. 1996 war dafür ein Signaljahr: Die AEG und die Vulkanwerft gingen, neben weiteren 25.000 Unternehmen, in den Konkurs.[17] Und im selben Jahr marschierten in Bonn so viele Gewerkschaftsmitglieder – rund 350.000 – wie noch nie nach 1945 sozialkämpferisch gegen die Sparpläne der schwarz-gelben Bundesregierung auf, was Oskar Lafontaine, seit 1995 Vorsitzender der Sozialdemokraten, sogleich aufnahm und in politische Forderungen seiner Partei bis in das Wahljahr 1998 hinein vermittelte.

Empirische Erhebungen aus dem Jahr 2008 zeigten, dass die unteren Schichten lebensgeschichtlich die schlimmste Zeit, die fatalsten Brüche in ihrer Biografie in den 1990er Jahren verorteten, als nicht nur die schon zuvor existente Arbeitslosigkeit drückte, sondern als überdies die Neuen Medien, die neuen Technologien, die neue Währung, die neuen Ansprüche im Geschlechter- und Familienverhältnis, die Appelle zur fortwährenden Bildung ihnen auf den verschiedensten Ebenen zusetzten.[18] Mit einem Problem fertigzuwerden, hätte ihnen noch vielleicht gelingen mögen. Doch nun bündelten sich die Wandlungen und Zumutungen auf allen Seiten der Alltagsbewältigung.[19] Sie hatten nicht den Eindruck, in Zeiten des Stillstands zu leben, in denen man kommod innehalten und gemütlich ein schönes Päuschen genießen konnte. Im Grunde galt das auch gesamtgesellschaftlich.[20] In den 1990er Jahren überschnitten sich mehrere schwergewichtige Probleme und Krisen. Die Vereinigung in Deutschland musste gelingen. Der europäische Integrationsprozess war fortzuführen. Der Bürgerkrieg auf dem Balkan erforderte eine politische und hochkonsequente Haltung. Die mittelosteuropäischen Nachbarn durften im Transformationsprozess nicht alleingelassen werden. Im noch 1989 einigermaßen konsolidierten Staatshaushalt türmten sich nun wieder die Schuldenlasten. Die Arbeitslosigkeit war immens angestiegen, die Zahl der Asylsuchenden wuchs so sehr, dass das Grundgesetz in diesem Punkt umstritten und schließlich verändert wurde. Der Soziologe M. Rainer Lepsius hatte einmal darauf hingewiesen, dass Nationen kaum dazu in der Lage sind, mit sich überlappenden Basisherausforderungen, die sämtlich zeitgleich auftreten, auf zivile Weise fertig zu werden. Auch ein gut funktionierendes System kann in der Regel jeweils nur ein Großproblem konstruktiv lösen, denn jede Organisation – auch der Staat – besitzt eine beschränkte Leistungsfähigkeit. Insofern ist es in der Retrospektive verblüffend, dass am Ende des Jahrzehnts ein geordneter, demokratischer Regierungswechsel und nicht eine turbulente Desintegration stand.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2015 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2015