„Durchbruch der Globalisierung“ Über die 1980er Jahre als Jahrzehnt der Transformation

Ein Gespräch mit Andreas Rödder

In welchem politischen Klima entwickelt sich denn dieses Neue?

Für uns sehr viel sichtbarer als für die Zeitgenossen ist ein doppelter Bezugsrahmen in den 1970er Jahren. Auf der einen Seite prallen marktliberale und klassisch wohlfahrtsstaatliche Positionen aufeinander, ohne die Kenntnis der weiteren Entwicklung. Als die Regierung Kohl 1982 ins Amt kam, prognostizierten die Gewerkschaften eine neue „soziale Kälte“. Die weitere Entwicklung hat gezeigt, dass, zumindest für die 1980er Jahre in der Bundesrepublik, nichts davon eingetreten ist. Der andere Bezugspunkt - und man muss aufpassen, dass man ihn aus unserer heutigen Perspektive nicht zu sehr aus den Augen verliert - ist immer der Hintergrund der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges. Gerade die frühen 1980er Jahre sind von einer wieder aufgelebten Furcht vor der Bedrohung durch die Gegenseite im „zweiten Kalten Krieg“ beseelt.

Frank Uekötter, der in diesem Heft über Angst und Bedrohung schreibt, stellt die 1908er Jahre in England mit einer sehr viel schärferen Polarisierung einem, wie er es nennt, abgedämpften Jahrzehnt in Deutschland gegenüber. Wie kommen eigentlich diese Unterschiede zustande?

Ich würde drei Gründe namhaft machen. Zum einen steckte England in den siebziger Jahren in einer sehr viel tieferen Krise als die Bundesrepublik. Eine flächendeckend nicht mehr funktionsfähige Industrie, das ist das britische Problem, plus die gesellschaftlich-politische Macht der Gewerkschaften, die in der Lage waren, das ganze Land lahmzulegen. Das ist das eine. Das andere sind eine politische Kultur und ein politisches Institutionensystem, die sehr viel kontroversere und konsequentere Entscheidungen möglich machten, wenn man einmal eine Mehrheit hatte. Hinzu kommt freilich der Faktor der Persönlichkeit, und das heißt: Margaret Thatcher. Es gab ja genug Konservative, die einen sehr viel moderateren, kompromissbereiteren Kurs befür-worteten. 1981 wurde Thatcher von ihren eigenen Parteikollegen bestürmt, ihren harten Sparkurs zu ändern, und sie antwortete mit dem berühmten Satz: „The lady is not for turning.“ In der Bundesrepublik war weder die Krise so tief wie in Großbritannien, noch war Kohl auch nur in Ansätzen so kontrovers wie Thatcher. Kohl war der Inbegriff des „Modells Deutschland“ und der „Politik des mittleren Weges“.

Dem gegenüber stand ein hohes Maß an Bürgerpartizipation, insbesondere in den neuen sozialen Bewegungen. Täuscht der Eindruck oder verhalten sich Protest und Engagement über die Zeit wellenförmig? Und wenn ja, wodurch geschieht so etwas?

Wenn es solche Wellen denn wirklich gibt. Wir haben in der Bundesrepublik immer mal wieder Ausschläge von Protest und Partizipation, von der Kampagne gegen die Wiederbewaffnung in den 1950ern bis zu den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg 1991. Diese Politisierung scheint mir in der bundesdeutschen Geschichte eher eine Ausnahmephase zu sein. Wenn Sie überlegen, dass noch Anfang der sechziger Jahre die Rede davon war, dass die „Studenten von heute“ völlig angepasst wären, dann wird schnell klar, dass die Politisierung, die wir mit „68“ und den 1970er bzw. frühen 1980er Jahren verbinden, erst in den späten 1960ern wirklich massiv auftritt und in den 1980ern dann wieder abebbt, wobei es nicht nur die Politisierung und die Partizipation der neuen sozialen Bewegungen gegeben hat, sondern ebenso auch die ihrer politischen Opponenten. Auf den Autos klebten ja nicht nur „Atomkraft - Nein danke!“- oder SPD-Sticker, sondern auch CDU- und CSU-Aufkleber, bis zum Konterfei von Franz Josef Strauß 1980. Sehen Sie heute noch ein Auto mit einem Aufkleber einer politischen Partei, wenn es nicht gerade das Wahlkampfmobil der Kandidaten ist? Mir scheint die Zeit von den späten sechziger bis zu den frühen 1980er Jahren eher eine besondere Phase in der Geschichte der Bundesrepublik zu sein, weniger eine zyklische Wellenbewegung. Diese Form der Politisierung hing offensichtlich mit einer bestimmten Phase der Selbstverständigung der bundesdeutschen Gesellschaft zusammen.

Es ist auffällig, dass sich in den 1980er Jahren etwas ballt. Gerade in Bezug auf die eigene Vergangenheit, wenn man an den Historikerstreit und an die Diskussion der Weizsäcker-Rede zum Tag des Kriegsendes denkt, bis hin zu den Debatten um Museumsgründungen. Ist das auch eine Phase, in der generationell dieses Thema der Vergangenheitsbewältigung anders angefasst wird?

Generationell kommt der eigentliche Umbruch erst in den 1990er Jahren mit dem Übergang von der kontroversen „Bewältigung“ zur konsensualen „Aufarbeitung“ durch die gar nicht mehr beteiligten Nachgeborenen, die heute die NS-Vergangenheit von Ministerien oder Unternehmen untersuchen. Das ist in den 1980er Jahren ja noch anders. Hier stoßen die Flakhelfergeneration der um 1930 Geborenen und die Achtundsechziger aufeinander, wobei die Konfliktlinien auch quer durch die Generationen laufen, so dass wir es nicht nur mit einem Generationenkonflikt zu tun haben. Was wir in den 1980er Jahren allerdings erleben, ist ein Paradigmenwechsel im Geschichtsbild: ein Paradigmenwechsel hin zu den Opfern. Bis in die 1970er Jahre haben Darstellungen zum Nationalsozialismus in aller Regel die Jahre 1933-1939 umfasst und die Frage der Implementation der Diktatur in der deutschen Gesellschaft thematisiert. In den 1980er Jahren verschiebt sich die Perspektive hin zu den Opfern, insbesondere natürlich im Hinblick auf den Mord an den europäischen Juden. Das verliert man heute leicht aus dem Blick, da uns die gesamte Geschichte und Dimension der Opfer des Holocaust in aller Deutlichkeit vor Augen steht. Als ein wirklich flächendeckendes geschichtsprägendes Element hat sich dies, übrigens auch europaweit, erst in den 1990er Jahren, nach dem Ende des Kalten Kriegs, durchgesetzt. Dieser Wechsel in der Perspektive in den 1980er Jahren geschieht immer noch unter dem Gesamteindruck der Systemkonkurrenz. Ein Beispiel etwa ist das Verhältnis zu Polen: Nach 1990 rückte Polen als Opfer deutscher Gewalt ins Bild, vor 1989 war Polen immer Teil des gegnerischen politischen Blocks.

Was sind denn Generationen, die hier in den 1980er Jahren diese Transformation mitmachen, wodurch sind sie geprägt und welche Werthaltungen ringen da miteinander?

Nach der klassischen Definition Karl Mannheims setzt die Generationenprägung nicht nur ein statistisches Geburtsjahr, sondern immer auch das spezifische Generationenerlebnis voraus. Davon kann man, was die Weltkriege angeht, sicher auch mit Grund ausgehen. Insofern haben wir es in den 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik mit drei Generationen zu tun. Da ist die Generation der Soldaten, zu denen auch Helmut Schmidt gehört, die Generation der Flakhelfer, die zuweilen auch die „45er“ genannt wird, also die um 1930 Geborenen, die ihre Jugend im Nationalsozialismus erlebt und den Krieg am Schluss möglicherweise als Flakhelfer sogar noch aktiv miterlebt hatten. Und drittens die Achtundsechziger-Generation, der im oder kurz nach dem Krieg Geborenen und nach dem Krieg Aufgewachsenen. Die Generation, die die 1980er prägt, ist in ganz starkem Maße die Flakhelfer-Generation. Ihre Vertreter, ohnehin früh in führende Positionen gelangt, stehen in ihren 50ern und in ihrem Zenit - das typischste Beispiel: Helmut Kohl. Sie bringen übrigens in europapolitischer Hinsicht eine ganz eigene Prägung mit, eine Bereitschaft zur europäischen Integration, wie sie davor bei denjenigen, die sehr viel stärker im klassischen Konzept von Nationen verhaftet waren, aber auch danach bei denjenigen, die die Dinge wieder pragmatischer und nüchterner sehen, so kaum mehr anzutreffen ist.

Womit erklären Sie das?

Die Lehre der „alten Bundesrepublik“ hieß „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder deutsche Vormacht“ - allerdings in unterschiedlichen Varianten. Die Friedensbewegung stand für die pazifistische Variante, Kohl hingegen für Westbindung und Bündnisloyalität, die freilich nicht verhindern konnten, dass die Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren immer stärker und mehr und mehr zur europäischen Vormacht wurde - zum Erschrecken vieler Deutscher, von Helmut Schmidt bis Helmut Kohl. Man muss sich klar machen: Dieses Land hatte den Krieg verloren, es war geteilt worden, es war keine Nuklearmacht, hatte seine Schwerindustrie in den 1950er Jahren vergemeinschaftet - und wurde nun wieder zur zentralen Macht in Europa, und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Insofern war übrigens Helmut Schmidts Wort, die Bundesrepublik sei „ein wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg“ immer schon im Ansatz falsch. Vor diesem Hintergrund war die Botschaft der 45er-Generation, insbesondere Kohls, diesem Umstand Rechnung zu tragen und Deutschland auf jeden Fall in Europa einzubinden, um eine neue deutsche Vormacht zu verhindern, was sich dann nach der Wiedervereinigung noch einmal erheblich verstärkte.

Das Interview führte Felix Butzlaff.

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Quelle: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1-2014 | © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014